Kolumne Behelfsetikett: Ich war noch nie in Waidmannslust

Geschichte gibt es hier an jeder Ecke. Ein Rundgang durch den Nordkiez von Friedrichshain.

Graffitivolle Fassade

So bunt geht es in der Rigaer zu Foto: dpa

Zuerst steigen wir der Schwimmhalle aufs Dach. Steinstufen führen auf ein mit Apfelbäumen bepflanztes Areal mit Gras und Kräutern, schon knöchelhoch gewachsen. „Ach, ist das schön“, ruft eine Frau aus der Gruppe. Von hier oben hat man einen wunderbaren Ausblick auf die Gegend ringsum. Bei schönem Wetter sitzen da, wo sich Friedrichshain und Prenzlauer Berg und Lichtenberg treffen, direkt am S-Bahnhof Landsberger Allee, also da, wo Schwimmhalle und Velodrom liegen, gern junge Leute. Sie hören Musik, trinken und rauchen was oder so und schauen der Sonne beim Untergehen zu.

Ein guter Ausgangspunkt für meine Führung durch den Nordkiez von Friedrichshain, meinem Heimatkiez seit 24 Jahren. Ich mache diese Tour Ende April zum ersten Mal. Ich bin total aufgeregt, fühle mich zwar gut vorbereitet, aber man weiß ja nie …

Der Rundgang durch Friedrichshain findet im Rahmen einer Reise statt, die in einem 4-Tage-Programm die Möglichkeit bietet, Berlin in Begleitung von taz-RedakteurInnen zu erkunden. Das Angebot gibt es seit mehreren Jahren, Friedrichshain aber war komischerweise bisher als Kieztour nicht dabei.

Paradoxer Beginn

Paradoxerweise beginnen wir die Tour auf Prenzlauer-Berg-Gebiet: Das ehemalige Schlachthofgelände zieht sich vom S-Bahnhof Landsberger Allee rund zwei Kilometer wie eine Landzunge zwischen Friedrichshain und Lichtenberg. An dem riesigen Areal lässt sich in komprimierter Form allerhand zur städtebaulichen Geschichte der Stadt zeigen und erklären.

Also erzähle ich von Rudolf Virchow und seinen Plänen für einen hygienisch kontrollierbaren Zentralvieh- und Schlachthof, vom Bau des riesigen Komplexes (1864–1877), den Zerstörungen durch den Zweiten Weltkrieg, den Russen, die das weite Areal nach dem Sieg nutzten, und der DDR-Zeit – „wo es zum Himmel stank“, wie mir mal eine Nachbarin erzählte –, den Abrissarien nach der Wende, der gähnenden Leere auf dem Gelände und den verschiedenen Aufbauphasen im Karree …

Heute ist das alte Schlachthofgelände so gut wie voll bebaut, und fünf neue Stadtviertel sind entstanden. Die letzte Brache verschwindet gerade und wird zu einem Bürobau. Nun, allein dazu könnte ich Romane erzählen. Geht aber nicht, also schnell weiter.

Überall Geschichte

Aber halt, Geschichte gibt es im Kiez an jeder Ecke. In der Hausburgstraße, nun wieder auf Friedrichshainer Gebiet, steht die Hausburg-Schule, die gerade teilsaniert wird. In deren Innenhof finden sich bis heute Einschusslöcher, genauso wie an der Schlachthofmauer vis-à-vis, die aus dem April 1945 stammen, als die Rote Armee den Bezirk erreichte. Hier wurden Zwangsarbeiter, Deserteure und auch Plünderer – Bewohner aus dem Kiez, die im Schlachthof nach Lebensmitteln suchten – erschossen. Davon wusste ich bislang nichts. Erst in Vorbereitung auf meine Führung bin ich dank des Friedrichshainer Geschichtsvereins Hans Kohlhase darauf gestoßen. Ein Zugewinn an Wissen.

Das war auch der Tenor beim Dutzend interessierter Menschen aus ganz Deutschland, die sich für diese Reise entschlossen hatten. Sie wollten Berlin besser kennenlernen – und eben anders. Durch die Augen von taz-RedakteurInnen, denen die Stadt nun mal auf ganz eigene Weise vertraut ist. Deshalb hab ich in die Führung meinen Alltag und Beobachtungen aus 24 Jahren einfließen lassen. Aus historischen Geschichten und aktuellen Entwicklungen, etwa am Beispiel der Tilsiter Lichtspiele in der Richard-Sorge-Straße, der Karl-Marx-Allee oder den letzten besetzten Häusern in der Rigaer Straße entspann sich etwas – ja: Schönes.

„Ich wäre nie auf die Idee gekommen, mich in diesem Teil von Friedrichshain umzusehen, das war echt interessant“, meinte am Ende einer der Teilnehmer aus Frankfurt/Main. „Ich auch nicht“, sagte eine Teilnehmerin aus Berlin, „ich komme noch mal wieder, um mich hier ausführlicher umzuschauen.“

Die Berlinerin übrigens wohnt in Waidmannslust und kennt nicht alle Stadtteile so gut wie ihren Heimatkiez, deshalb hat sie die Berlin-Reise mitgemacht. Eine super Idee. Ich war auch noch nie in Waidmannslust. Das wird jetzt im Mai nachgeholt.

Nächste Berlin-Reise in Begleitung von taz-RedakteurInnen: 9.–12. Oktober, Information: www.taz.de

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