Kolumne Blicke: Auf einer Bank an Gleis 1

Auch 2013 und gerade auf einem Neue-Bundesländer-Bahnhof gilt: unabhängig bleiben!

„An Silvester an einem trostlosen Neue-Bundesländer-Bahnhof.“ Bild: ap

An Silvester fand ich mich unvermittelt nachmittags um vier im Zwielicht eines dieser mild-windigen Wintertage wieder, an einem trostlosen Neue-Bundesländer-Bahnhof, wo ich immer sehr aufmerksam scanne, wer sich mir so nähert.

Die Kinder waren gleich zu ihrer Tante ins Auto gehüpft, so froh waren sie, nach acht Stunden Zugfahrt endlich angekommen zu sein, auf dem Land und mit der bevorstehenden Lizenz zum Knallen. Ich rauchte die erste Zigarette des Tages und war ein wenig stolz auf mich. Denn wenn ich es richtig empfinde, dann wird 2013 das Jahr der Gesundheit, zumindest für uns über Vierzigjährige, die bislang ein heroisches Verhältnis zu ihrem Körper pflegten, à la: „Schätzchen, ich bestimme hier, wieviel gearbeitet, geraucht, getrunken und gefeiert wird und wie wenig geschlafen – und nicht Du und Deine Kapricen.“

Als ich den Fahrplan studierte, sank meine Laune beträchtlich. Zwei Stunden sollte ich hier verbringen, bevor mich der Zug endlich nach Berlin zu meiner Liebsten und meinem ersten Erwachsenenjahreswechsel seit Jahren bringen würde? Ich rauchte die zweite Zigarette des Tages. Ein junger Mann näherte sich mir, ich zuckte zusammen, aber er trug gar keine Parteiabzeichen. Er studierte ebenfalls den Fahrplan. Und wenn er auch den zu kurz angebundenen Dialekt der Gegend sprach, so kam doch eine Unterhaltung darüber zustande, ob der 17-Uhr-Zug nach Angermünde (Mo.- Fr.) heute wohl verkehren würde: Galt nicht der 31.12. als Feiertag? Galt er nach Plan nicht. Ihm war geholfen.

Die Bank an Gleis 1

Ich ging zu einem tatsächlich geöffneten Bahnhofsgeschäft, wo es tatsächlich freundliche Menschen, Zeitungen, Kaffee und Mariacron gab, den ich dem Heißgetränk üppig zuführte. So ausgestatt hieß es, sich auf einer Bank an Gleis 1 einzurichten – das Bahnhofsgebäude selbst war gesperrt, wegen einer defekten Tür. Ich liebe solche Begründungen.

Die Zeitungen waren voller Rück- und Ausblicke, aktuell gab es wenig, na gut, der SPD-Mann hatte wieder vom Geld gesprochen, aber das war mit einem Tsunami nicht zu vergleichen. Die Menschen waren nach der böse arbeitnehmerfreundlich genannten Orgie von Besinnungstagen inputunterzuckert, vor den Notaufnahmen der Psychatrien hatten sich Occupy-Camps gebildet, die Telefonseelsorgen war erst 2013 wieder zu erreichen. Der Wind wurde frischer und ich dachte, dass die SPD eben immer noch eine Zwischen-den-Jahren-Partei ist und dass nun immerhin all jene Journalisten, die ihr beobachtend-beschreibend-analysierender Beruf nicht ausfüllte und die deswegen – ob nun mit Parteibuch oder ohne, ich stecke da nicht drin – für eine schwarz-grüne Koalition warben, zwar weiterhin für ein fachfremdes, aber wenigstens zukunftsträchtiges Anliegen sich ins Zeug legten.

Und als ich gerade überlegte, ob ich im September nicht Frau Merkel wählen werde, kam der junge Mann vom Fahrplan vorbei und sagte mir im Vorbeilaufen, wenn ich nach Berlin wollte, sollte ich mich mal sputen, der Schienenbus nach Angermünde fahre gleich los und dort hätte ich Anschluss. Es wurde ein wunderschönes Silvester.

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Geboren 1968 in München, seit 2008 Redakteur der taz. Er arbeitet im Ressort taz2: Gesellschaft&Medien und schreibt insbesondere über Italien, Bayern, Antike, Organisierte Kriminalität und Schöne Literatur.

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