Kolumne Cannes Cannes: Keine Gemeinschaft in der Not

Palmen helfen gegen Terror und entschleunigen den Fußgängerverkehr. Andrei Swjaginzew widmet sich der Vereinzelung.

Ein Gabelstapler platziert Palmenkübel

Wohl der Stadt, die so einen schönen Terrorschutz hat Foto: reuters

Zeit ist ein hochgradig konjunkturabhängiges Gut. Wenn sie sich, bei einem Festival etwa, zu einer Art Konzentrat zu verdichten scheint, muss man jede Minute sinnvoll nutzen. Ruhepausen in größerem Stil sind nicht vorgesehen.

Wenn man dann auf einmal mehrere Stunden zur freien Verfügung hat, weil es am ersten Tag nicht mehr zu gucken gibt, ist das schon fast ein bisschen irritierend. Aber auch scheinbar sinnlose Tätigkeiten wie nicht zielgerichtetes Herumlaufen helfen dabei, sich zu orientieren.

Manche Kleinigkeit, die, wenn es schnell gehen soll, bloß den Betrieb stört, lässt ihre wahre Bedeutung mitunter zeitverzögert ins Bewusstsein sickern. Die Palmen in wuchtigen Kübeln etwa, die auf der Höhe des Festivalpalasts dicht an dicht an die Stellen gesetzt wurden, wo Ampeln für Fußgänger sind.

Durch diese Gestaltung des öffentlichen Raums wird der Fußgängerverkehr stark entschleunigt, man steht sich ja automatisch gegenseitig im Weg, wenn man in beiden Richtungen zwischen dieser mobilen Begrünung hindurch will. Vor allem aber werden Lkws daran gehindert, auf das Festivalgebäude zuzurasen.

So wie die gesellschaftliche Lage Frankreichs in Cannes an Blumentöpfen sichtbar wird, setzt der russische Regisseur Andrei Swjaginzew in seinem jüngsten Film „Loveless“ eine ganze Reihe von symbolischen Details ins Bild, um die Situation Russlands zu kommentieren.

Swjaginzew hatte vor drei Jahren in Cannes für seinen Film „Leviathan“ den Preis für das Beste Drehbuch erhalten. Nun erzählt in „Loveless“ die Geschichte einer zerfallenden Familie, die auch stellvertretend für die Gesellschaft Russlands stehen könnte.

Eine Ehedrama, eine Suche

Schenja und Boris stehen kurz vor der Scheidung. An ihrer Ehe ist nicht viel zu retten, sie streiten sich aber darüber, was mit ihrem zwölfjährigen Sohn Alexei werden soll. Der hört nachts die streitenden Eltern und ihre wenig zimperlichen Verhandlungen darüber, was mit ihm geschehen soll. Erst weint er, dann geht er. Und kommt nicht wieder.

„Loveless“ beginnt als Ehe­drama, mit einer Mutter, die den Blick nicht vom Smartphone wenden kann, und einem Mann, der tatenlos auf den Scherbenhaufen starrt, an dessen Entstehung er beteiligt war. Das Verschwinden des Sohns aber bringt Bewegung in die Beziehung, fast scheint es, als würde das Nicht-mehr-Paar darüber zumindest die Feindseligkeiten ruhen lassen. Eine Gemeinschaft können sie jedoch nicht einmal mehr in der Not bilden.

Gezeigt wird ein Korps, in dem sich jedes Individuum der Sache unterordnet

Als Kontrast zur aggressiven Vereinzelung setzt Swjagin­zew eine Hilfsorganisation, die in Kooperation mit der Polizei eine großflächig koordinierte Suche nach dem Sohn beginnt. Der Film verwendet viel Zeit darauf, die effektive Teamarbeit der Freiwilligen nüchtern, Schritt für Schritt zu verfolgen. Gezeigt wird ein Korps, in dem sich jedes Individuum noch ganz der Sache unterordnet.

Ihre Suche führt irgendwann zu einem verfallenen Haus, wo Alexei im Versteck vermutet wird. Stockwerk um Stockwerk folgt die Kamera dem Trupp über Schutt, Splitter und Pfützen. So, als solle die bröckelnde Ruine der Sowjetunion – oder der post­sowjetischen Gesellschaft – begangen werden. Ein bisschen zerfällt über alldem auch der Film.

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Jahrgang 1971, arbeitet in der Kulturredaktion der taz. Boehme studierte Philosophie in Hamburg, New York, Frankfurt und Düsseldorf. Sein Buch „Ethik und Genießen. Kant und Lacan“ erschien 2005.

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