Kolumne Darum: „Maß halten“, my ass!

Kollege Deniz Yücel meinte neulich, zum Maßhalten auffordern zu müssen – der Kinder wegen. Von Kindern lernen wir: Das ist falsch.

Eine Einschränkung noch: Maß halten ist nicht immer falsch. Bild: dpa

Manchmal haben Kinderlose einfach den besseren Blick auf alles, was in dieser Gesellschaft (und auch in einigen anderen) bei der Debatte um Kinder falsch läuft. Der Kollege Deniz Yücel schrieb neulich an dieser Stelle: „Die Kinder, die Kinder, die armen kleinen Kinder. Wer irgendeine Schikane im Sinn hat, ist gut beraten, sie mit dem Wohl von Kindern zu rechtfertigen“. Da hat er Recht.

Mit seinem Kolumnenschluss verhält es sich anders: „Besser: Man hält Maß. Der Kinder wegen, logisch.“ Da liegt Yücel falsch, umso falscher sogar, als er doch zuvor so schön herausgearbeitet hat, wie restriktiv, patriarchal und verlogen die Kinder- und Gesellschaftsdebatte nunmal läuft, wie also Kinder für etwas herhalten müssen, was Verbotsfetischisten von Rechts bis Links in ihren kindischen Allmachtsfantasien so umtreibt.

„Man hält Maß“ – das ist es ja gerade, was alle von Eltern erwarten. Alle bedeutet: Politik und Wirtschaft, Kultur und Freizeitindustrie, Schulen und Kindergärten, Kinderlose sowieso und sogar die Kinder selbst.

Wir Eltern sollen dafür sorgen, dass – um in der Reihenfolge der Aufzählung zu bleiben – der Politik nie das Stimmvieh ausgeht, der Wirtschaft stets willige Mägde und Knechte zur Verfügung stehen, der Kultur nicht die Helene-Fischer-Fans abhandenkommen, die sich dann auch noch an Orten der Freizeitindustrie („JOLOs Kinderwelt“, LEGOLAND Discovery Centre, sonstige in VERSALIEN gehypte Abzockhöllen) dumm und dämlich bezahlen, um hernach als Teil der Bürgergesellschaft am Samstagmorgen freiwillig ein Klassenzimmer zu streichen oder in der Kita den Essensraum neu zu verkabeln, woraufhin sie sich mit ihren Kindern leise und gesittet in der Öffentlichkeit bewegen, um Kinderlose, die erst mittags aufstehen, bloß nicht beim Frühstücksbier zu stören und schließlich weil sich unsere Kinder irgendwann nach dem Ordnungsruf sehnen, wenn es ihnen plötzlich zu anstrengend wird, immer anstrengend zu sein.

Grölen, nerven, lügen, betrügen und schmarotzen

So viel zum „Maß halten“. „Maß halten“, my ass. Kein Fußbreit dem „Maß halten“. Von Kindern lernt man, dass das genaue Gegenteil richtig ist. Alles wollen, laut sein, frech sein, nie die Klappe halten, sich stets totalitär verhalten, nach zwei Schokopudding mit extra Sahne noch ein Eis fordern, andere für sich arbeiten lassen, grölen, nerven, lügen, betrügen und schmarotzen, den Anforderungen von Staat, Kapital und Kultur einen Popel ans Etikett schmieren, einen Telefonstreich bei der Bürgergesellschaft machen, über ihre guten Ratschläge laut lachen und spotten. Und dabei hampeln sie dem Yücel auch noch die Kippe aus dem Mundwinkel.

„Maß halten“, schallt es uns aus der Kinderlosen-Spießerhölle entgegen, aber das hören wir gar nicht, weil die Kinder zum Glück lauter sind. „Müssen die Kinder hier denn ...“ wird der erste Teil einer genervten Frage laut, deren zweiter vom colainduzierten Dazwischengequatsche der Tochter rabiat unterbunden wird. „Wir haben auch ein Recht auf ...“ beginnt ein Satz, den der Sohn mit einer Furzgeräuschfanfare kurzerhand abwürgt. „Maß halten“?

Besser: Mund halten!

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Jahrgang 1969, Leitender Redakteur des Amnesty Journals. War zwischen 2010 und 2020 Chef vom Dienst bei taz.de. Kartoffeldruck, Print und Online seit 1997.

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