Kolumne Die B-Note: Es muss Liebe sein

Wenn man sonntags um 6.15 Uhr aufsteht und sich bei einem Grad und Nieselregen auf den Fußballplatz begibt, kann es nur einen Grund dafür geben.

Es muss Liebe sein. Sich samstags oder sonntags in der Früh – nach fünf oder sechs Tagen, an denen der Wecker nie nach 6.15 Uhr klingelte – noch einmal zur gleichen Uhrzeit wecken lassen. Sagen wir: Es ist November. Null Grad, kalter Nieselregen, zappenduster. Und doch kann man schon die graue Tristesse erahnen, die den Tag prägen wird.

6.15 Uhr also, Wochenende, und die erste Zigarette am Balkon schmeckt nicht. Es ist zu kalt und es ist zu feucht und es ist zu früh und man ist müde und man hadert mit der Welt darüber, dass es Frauenfußball gibt. Genauer: Mädchenfußball. Seit ein paar Monaten spielt die Tochter bei den E-Juniorinnen des FC Internationale Berlin. Heute ist Auswärtsspiel, Anpfiff 9 Uhr, Umziehen ab 8.30 Uhr. Irgendwo am Stadtrand von Berlin, weit hinter Hohenschönhausen, „jwd“, mindestens eine Stunde Fahrzeit.

Ein Kind muss nun geweckt werden. Es muss aus seinem warmen Bett steigen, muss frühstücken, ins Bad, sich anziehen. Die Sportsachen und Verpflegung müssen gepackt, das Kind will angetrieben werden, damit man nicht zu spät loskommt. Schon im Auto, noch mal zurück – Stofftier vergessen. Herbstdepression und Erschöpfung mischen sich zur Unkenntlichkeit. Nichts anmerken lassen, niemandem die Vorfreude verderben, auf dem Rücksitz singt ein Kind.

Es ist 7.30 Uhr. Der Regen hat zugenommen, das Autothermometer zeigt 1,5 Grad, der Himmel ist nun dunkelgrau, im Radio erinnert jemand an den Suizid von Robert Enke. Wir fahren durch Berlin, die Straßen sind frei, nur Irre und Eltern Fußball spielender Kinder sind um diese Uhrzeit unterwegs. Oh nein, Thermoskanne Kaffee vergessen. Na gut, es wird schon einen Kiosk am oder in der Nähe des Sportplatzes geben. Das Kind redet, ununterbrochen, von seinen Träumen – einen eigenen Kinderkickerverein zu haben, tausende Tore zu schießen, Profifußballerin zu werden.

Hinter Hohenschönhausen endet der Redeschwall abrupt. Wir befahren eine vierspurige Straße, wo nichts mehr ist. Ödnis rules. „Papa? Wohnen hier Menschen?“ – „Nein, mein Kind, hierher ziehen sich Baumärkte zum Sterben zurück.“ – „Versprichst du mir, dass wir nie hierherziehen?“ – „Definitiv.“

Wir treffen ein, pünktlich um 8.30 Uhr. Es regnet stärker, die Temperatur ist auf ein Grad gesunken, ein anderes Dunkelgrau sorgt für farbliche Abwechslung. Ein Kiosk ist nicht in Sicht. Andere Eltern ziehen mutig los, um die Wildnis zu erkunden und kehren rasch zurück – verzweifelt, geschlagen, hoffnungslos. Es wird ohne Kaffee gehen müssen.

Das Spiel beginnt. Regenwasser fließt in Krägen. Nach nur drei Minuten liegen die E-Juniorinnen des FC Internationale bereits mit 0:5 zurück, am Ende wird im Spielbericht ein 1:27 oder 0:29 oder vielleicht auch 1:24 vermerkt sein. Genauer will man es auch gar nicht wissen. Denn das erste Auswärtsspiel ist vorbei, das Kind ist glücklich, und man selbst ist es auch. Es muss wohl Liebe sein.

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Jahrgang 1969, Leitender Redakteur des Amnesty Journals. War zwischen 2010 und 2020 Chef vom Dienst bei taz.de. Kartoffeldruck, Print und Online seit 1997.

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