Kolumne Die eine Frage: Sechs deutsche Vorurteile

Ist in der Flüchtlingsfrage nach der Euphorie plötzlich „die Stimmung gekippt“? Viele reden jetzt so. Also, meine Stimmung ist nicht gekippt. Und Ihre?

Ein Haus in Brandenburg spiegelt sich in einer Pfütze.

Deutschland im Herbst 2015. was ist schon so, wie es aussieht? Szene aus einem Dorf in Brandenburg. Foto: dpa

Vorurteile bestimmen das Leben. Ohne dass man es mitkriegt. Gabriel ist opportunistisch. Comedians sind rechts. Außer Gysi. Grüne ohne Macht sind Illusionisten. Grüne mit Macht sind Verräter. Bild ist immer „Dreck“, auch wenn sie ordentlich berichtet.

Es ist unmöglich, zu sehen, was ist, wenn man darauf festgelegt ist, wie es zu sein hat.

Nun kommt uns auch noch einer der sich entwickelnden Prozesse des 21. Jahrhunderts nahe; die globale Völkerwanderung. Auch wir Top-Publizisten können damit schlecht umgehen, weil auch wir komplett im Bann unserer Vorurteile sind.

Das eine Vorurteil lautet: Noch nie ging es dem Deutschen so gut wie heute und noch nie war er so gut wie heute. (Welzer, Minkmar, Unfried und moderner linker Salon)

Ein junger Mann aus Spandau kommt vor Gericht wegen Hanfanbaus. In Kreuzberg denkt man derweil über die Eröffnung von Coffeeshops nach. Ist das Cannabis-Verbot noch zeitgemäß? Oder wächst es uns über den Kopf? Die Titelgeschichte „Voll Gras!“ lesen Sie in der taz.am wochenende vom 17./18. Oktober. Außerdem: Zwei Brüder, zwei Reisen. Einer kam Ende der Sechziger aus Syrien nach Frankfurt, der andere vor einem Jahr. Jetzt sind sie wieder vereint. Und: Freilerner sind Kinder, die zu Hause unterrichtet werden. Mit den Behörden geraten sie regelmäßig in Konflikt – wegen der Schulpflicht. Zu Gast in einer WG. Das alles gibt es am Kiosk, eKiosk oder im praktischen Wochenendabo.

Das zweite Vorurteil lautet: Scheiße. Der Deutsche ist am Ende. (Strauß, Brandenburger Dorfsalon)

Das dritte Vorurteil lautet: Das Böse in Deutschland ist immer und überall. Alles wird schlimm enden. Und ich habe es immer gesagt. Außer es kommt rot-rot-grün. Aber das kommt ja nicht, weil das Böse überall ist. Und außerdem würde das auch schlimm enden. (Augstein und klassischer linker Salon)

Das vierte Vorurteil geht davon aus, dass Politik hauptsächlich eine individuelle Moral- und Charakterfrage ist. Dass es da bei der CSU (4.1) schlecht aussieht, ist eh klar. Vom Bavarismus zum Barbarismus sind es nur zwei Konsonanten. Hier beginnt auch die Problemzone der Merkel-Transformations-Analyse. Für die einen (4.2) war Merkel bisher eine seelenlose Machtmaschine. Aber dann: Katharsis! Nun kämpft sie für den Weltethos. Wie man selbst ja auch. Tenor: Geht doch. Für die anderen (4.3) war Merkel bisher ein verlässlicher Wertegarant. Aber dann: Gehirnerweichung! Nun kämpft sie für den ökonomischen Niedergang. Tenor: Mach‘ was, Horst.

Das ständige Hin und Her: Die eine Woche schaffen wir‘s, die nächste schafft es uns, kaum sind wir keine Nazis mehr, haben wir Rassismus und Islamophobie schon wieder im Blut

Ein fünftes Vorurteil lautet: Egal, worüber wir gerade reden, ich spreche auf ironische Art davon, dass die Linken bescheuert sind, denn das ist ja mein USP. (Fleischhauer-Style)

Ein sechstes Vorurteil lautet: Egal, worüber wir reden, ich spreche auf moralische Art über die Arbeiter-, geschlechter-, ethnien- und minderheitenverachtenden Paladine des spätkapitalistischen Neoliberalismus. (Nicht identisch mit Vorurteil drei, auch der klassische Salonlinke gilt hier als Paladin)

Dann noch das ständige Hin und Her: Die eine Woche schaffen wir‘s, die nächste schafft es uns, kaum sind wir keine Nazis mehr, haben wir Rassismus und Islamophobie schon wieder im Blut. Und im Boden. Wir fahren mit unseren Qualitätsmedien im Aufzug rauf und runter, dass einem richtig schwindlig werden könnte.

Was tun? Erstmal innehalten: Wer sagt denn, dass „die Stimmung gekippt“ ist? Meine Stimmung ist nicht gekippt. Wie könnte sie? Das ist keine Stimmungsfrage. Wir sind am Anfang einer komplizierten Situation, die globalen Entwicklungen der nächsten Jahre zu managen. Da ist der Einsatz von sich selbst erfüllenden rechten Negativprophezeihungen überhaupt nicht hilfreich und der von linken Moralzwickmühlen extrem zynisch, weil dadurch jeder Zug zu einem schlechten Ende führt. Und das auch soll.

Eine erfolgreiche Flüchtlingspolitik kann nur eine Mischung aus hell und dunkel sein. Erfolgreich meint: Die gelebte Solidarität der sich selbst ermächtigt habenden Bürgergesellschaft in nachhaltig unterstützte Politik in EU, Bund und Ländern umsetzen, damit so vielen wie möglich real geholfen wird.

So schwer es uns angesichts unserer Gerechtigkeits-, Vorurteils- und Abgrenzungsbedürfnisse fällt: Wir sollten uns auf das gute Gemeinsame dieser Gesellschaft konzentrieren.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Chefreporter der taz, Chefredakteur taz FUTURZWEI, Kolumnist und Autor des Neo-Öko-Klassikers „Öko. Al Gore, der neue Kühlschrank und ich“ (Dumont). Bruder von Politologe und „Ökosex“-Kolumnist Martin Unfried

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.