Kolumne Macht: Solidargemeinschaft?

Selbst in Deutschland wird so getan, als handele es sich bei sozialen Nöten um das Versagen Einzelner. Und nicht um ein gesellschaftliches Problem.

Zwei Hände, ineinander geschlungen

Sich kümmern: Eine Pflegekraft hält in einem Seniorenheim die Hand einer Bewohnern Foto: dpa

So ungefähr mit Mitte 50 fängt es an. Dass über menschenwürdige Unterbringung, über Demenz, über Krankheiten und über die Angst vor einem Schlaganfall beim Abendessen mit Freunden länger und häufiger geredet wird als über Politik und Urlaubspläne.

Dabei geht es nicht um die unmittelbar eigenen Probleme, sondern um die der Eltern. Was in mancherlei Hinsicht schlimmer ist. Weil Schuld-und Ohnmachtsgefühle mit ins Spiel kommen.

Nur wenige Leute haben so viel Glück wie ich: Eine Mutter, die mit 87 Jahren geistig und körperlich fit ist. Und die schon vor vielen Jahren selbständig für den Fall vorgesorgt hat, dass dies einmal nicht mehr so sein sollte. Kudos, Mama. Ein größeres Geschenk kann man einer erwachsenen Tochter derzeit nicht machen. Danke.

Komfortable Lösungen sind selten

Aber lässt sich daraus schließen, dass alle anderen alten Eltern verantwortungslos sind und ihnen das Schicksal ihrer Kinder egal ist? Sollen sie halt pflegen? Nein. Wahrlich nicht. Zur ganzen Wahrheit gehört nämlich auch: Meine Mutter ist dank günstiger Umstände materiell so gut abgesichert, dass sie sich komfortable Lösungen leisten kann. Für wie viele andere alte Menschen gilt das?

Für sehr wenige. Erwachsene Kinder, die lebenslang nicht einmal eine Reinigungskraft schwarz beschäftigt haben – weil sie diese Form der Steuerhinterziehung politisch und moralisch falsch fanden – , unterhalten sich inzwischen kenntnisreichs über die „polnische Lösung“. In vielen – nein, nicht in allen! – Fällen heisst das: steuerfreie (vulgo schwarze) Beschäftigung einer Pflegekraft aus Osteuropa.

Anfang der siebziger Jahre nahmen junge Linke heimlich Abtreibungen vor. Sie trafen sich in WGs, benutzen umgebaute Fahrradpumpen und Codewörter. Jetzt haben wir vier Frauen der Gruppe wieder zusammengebracht – in der taz am wochenende vom 4./5. August. Außerdem: In Bayern sind die Grünen in Umfragen zweitstärkste Partei – doch können sie Markus Söder stürzen? Und: Alles, was Sie schon immer über Schweiß wissen wollten. Ab Samstag am Kiosk, im eKiosk, im praktischen Wochenendabo und rund um die Uhr bei Facebook und Twitter.

Was genau bedeutet eigentlich der Ausdruck „Solidargemeinschaft“? Meinem Verständnis zufolge: dass bestimmte Gruppen innerhalb der Bevölkerung auf mehr staatliche Hilfen hoffen können als andere, weil sie bedürftiger sind.

Gerade wurden Zahlen über die soziale Situation von Alleinerziehenden veröffentlicht. Ergebnis: Dass diese Gruppe ein besonders hohes Armutsrisiko hat, und dass Frauen häufiger betroffen sind als Männer. Überraschung? Nicht wirklich. Pflegebedürftige, alte Menschen. Alleinerziehende Mütter. Familien, die ins Umland ziehen müssen, weil sie sich die Mieten nicht leisten können. Inzwischen ist ein sehr großer Teil der Bevölkerung betroffen.

Selbst in reichen Industrieländern wie Deutschland wird jedoch derzeit so getan, als handele es sich bei allen sozialen Nöten – leider, leider – um das Versagen von Einzelnen. Und nicht um ein allgemeines Problem.

In politischer Hinsicht ist das bedrohlich. Und in gesellschaftlicher Hinsicht obszön. Es wird nicht folgenlos bleiben.

Pech, wer keine Lobby hat

„Sozialstaat“. Bei der Google-Suche nach diesem Begriff kommt als erstes Ergebnis: „Demokratischer Staat, der bestrebt ist, die wirtschaftliche Sicherheit seiner Bürger zu gewährleisten und soziale Gegensätze innerhalb der Gesellschaft auszugleichen.“ Soziale Gegensätze innerhalb der Gesellschaft auszugleichen? Schön gesagt. Aber nicht mehr zutreffend. Die Individualisierung gemeinsamer Bedürfnisse gewinnt rasant an Tempo. Pech für alle, die keine oder nur eine schwache Lobby haben.

Wie eben zum Beispiel: Alte, Alleinerziehende, andere Arme. Ja, es kostet viel Geld, deren legitime Bedürfnisse zu erfüllen. Aber es wird noch viel teurer – auch und gerade im nicht-pekuniären Bereich – , sie nicht zu erfüllen. Anders ausgedrückt: Wenn wir dem sozialen Frieden innerhalb unserer Gesellschaft kein größeres Gewicht beimessen als bisher, dann wird es diesen Frieden bald nicht mehr geben.

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Jahrgang 1956, ist politische Korrespondentin der taz. Von 1996 bis 1999 leitete sie das Parlamentsbüro der Zeitung, vorher war sie sechs Jahre lang deren Korrespondentin für Ost-und Zentralafrika mit Sitz in Nairobi. Bettina Gaus hat mehrere Bücher veröffentlicht, zuletzt 2011 „Der unterschätzte Kontinent – Reise zur Mittelschicht Afrikas“ (Eichborn).

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