Kolumne Pressschlag: Wild und schön und offensiv

Niemand kontrolliert mehr das Spiel, alles ist im Fluss, die Konzepttrainer gewinnen keine Titel mehr: der Heldenfußball des Frühjahrs.

Ein Spieler, Lionel Messi, jubelt

Und Lionel Messi ist einfach Lionel Messi Foto: ap

Im Fußball war schon immer jede Analyse nur so gut wie das nächste Spiel. Dieser Tage jedoch glänzt er mehr denn je durch trügerische Momentaufnahmen und unerfüllte Prophezeiungen, wie das Beispiel des westfälischen Wahrsagers Hans-Joachim Watzke illustriert: Der bescheinigte den Bayern kürzlich, dass „Real und Barça mit ihnen nicht mithalten können“. Zweieinhalb Wochen später erwies sich selbst sein BVB als unüberwindbar für die Münchner Supermannschaft.

Oder Lionel Messi. Der war diese Saison schon „so schlecht wie noch nie“ (Gary Lineker, 14. Februar) beziehungsweise „der Beste, den es gibt (Gary Lineker, 23. April). Cristiano Ronaldo? Müde, alt, ausgepfiffen selbst im eigenen Stadion. Bis er gegen die Bayern in zwei Spielen fünf Tore schoss. Fünf Tore in einem Europacup-Viertelfinale, das ist unglaublich. Real hatte in elf Versuchen gegen die Bayern zuvor als Mannschaft nie mehr geschossen.

Die Ruhmestat ist beispielhaft: Just in der Zeit der Big-Data-Revolution, von Leistungsdiagrammen und GPS-Westen, von vermeintlich absoluter Mess- und Planbarkeit hat eine fröhliche Anarchie das Spiel ergriffen.

Wo früher Doppel- und Dreier-Sechsen alles defensiv kontrollierten und dann das Tiki-Taka alles offensiv bestimmte, hat der Fußball jetzt selbst diese Fessel abgelegt. Niemand kontrolliert mehr, alles ist im Fluss. Zumindest für einen denkwürdigen Frühling.

Das gleiche Barcelona kann 0:4 in Paris verlieren und 6:1 gegen Paris gewinnen. AS Monaco gegen ManCity, ebenfalls Champions-League-Achtelfinale: 6:6 nach Hin- und Rückspiel. Monaco gegen Dortmund, Viertelfinale: 6:3. Madrid gegen Bayern: 6:3.

Götterdämmerung der Konzepttrainer

Überhaupt, Madrid. Es ist unmöglich, von dieser Mannschaft ein langweiliges Spiel zu sehen. Vorbildhaft treibt das Team den Trend auf die Spitze: Er ist nicht mal in der Lage, eine Partie für fünf Minuten zu kontrollieren. Selbst der Tabellenletzte kommt beim Besuch im Santiago Bernabéu zu Torchancen.

Barcelona kam am Sonntag im Clásico auf 14. Womit es glücklich drei Punkte erwirtschaftete: Real zielte nämlich 22 Mal auf den Kasten. Es stellte sein Dauerfeuer nicht mal ein, als es mit einem Mann weniger auf dem Platz stand und nur das Remis verteidigen musste, um so gut wie sicher die Meisterschaft zu besiegeln. Shootout bis zur letzten Sekunde, das Unentschieden als natürlicher Feind, taktische Vorgaben maximal als grober Handlungsrahmen – nicht umsonst erleben die sogenannten Konzepttrainer unter diesen Umständen ihre Götterdämmerung.

Überhaupt, Madrid. Es ist unmöglich, von dieser Mannschaft ein langweiliges Spiel zu sehen

Pep Guardiola bleibt erstmals in seiner Karriere ohne Titel. Thomas Tuchels BVB hat sich längst von der Illusion entfernt, so etwas wie eine stabile Defensive anzubieten. Es sind schwierige Monate für die großen Regisseure auf den Trainerbänken, und mit ihnen für alle Experten, die einen Spielausgang mit dem überlegenen System oder dem entscheidenden Detail erklären können. In dieser Saison funktioniert das nicht, sie gehört nicht dem konvertierten Außenverteidiger oder der asymmetrischen Dreierkette. Sie gehört dem Heldenfußball.

So weit die aktuelle Momentaufnahme. Ein Cham­pions-League-Finale Atlético Madrid gegen Juve liegt ja noch im Bereich des Möglichen. Das fast schon zwangsläufige 0:0 ließe sich als nostalgisches Happening zelebrieren.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.