Kolumne Teilnehmende Beobachtung: Kopfstand gegen Konservatismus

Berlin umweht seit jeher das Image des Unangepassten, des Alles-ist-möglich. Diese Lässigkeit ist das Gebot der Stunde.

Kopfstehende Frau

Kopfstand geht in jedem Alter! Foto: dpa

Neulich las ich ein Interview von Wladimir Kaminer, dem russisch-jüdischen Schriftsteller aus Berlin. Er erzählte darin von seinem Vater, einem Mann, der keine Feier ausließ, um einen Kopfstand aufzuführen. Regelmäßig bei Familienfeiern stellte er sich auf den Kopf, bei einer Verlagsfeier seines Sohns im Kaffee Burger machte er sogar eine Brücke. Ich freute mich über den alten Russen, der auf Etikette pfiff, um das zu tun, was er für richtig hielt.

Auch eine andere Anekdote, die mir mein Freund erzählte, fiel mir wieder ein. Weihnachten, Anfang der Achtziger, bekamen er und sein Bruder ein Indianerzelt geschenkt. Da es sich bei den winterlichen Temperaturen draußen schlecht aufbauen ließ, verschwand Opa in seiner Werkstatt, kam mit einer Handvoll langer Nägel zurück und schlug sie kurzerhand durch den Teppich direkt ins gute Wohnzimmerparkett. Tagelang stand das Indianerzelt im Wohnzimmer, direkt vor dem Fernseher. Die Indianer waren glücklich.

Berlin umweht seit jeher das Image des Unangepassten, des Alles-ist-möglich. Scharen von Touristen, Kreative, Studenten mit den unterschiedlichsten kulturellen, konfessionellen oder sexuellen Lebensentwürfen zieht es deshalb in die Stadt.

Die wahren Urheber des Eigenwilligen aber sind die alteingesessenen Berliner mit ihrer legendären Schnauze, in der Sprachwissenschaftler eine ungeheure Schlagfertigkeit und die Neigung zur offensiven Direktheit analysieren. So wie bei Wolle, einem Urgestein, das mir erzählte, wie er in den Sechzigerjahren als Buffetier und Kellner „der Bräute wegen“ arbeitete. Damals „uff’m Wedding“ war das, als man den Schnurrbart noch mit schwarzer Schuhcreme bürstete, das Bier in Bars wie Dadada oder Schmutzige Gardine „80 Pfennige“ kostete und „man sich für 2 Mark auf dem Klo einen blasen lassen konnte“.

Geschichten wie diese, die vor Lässigkeit strotzen, wirken wie Kurzurlaub auf mich.

Auch deshalb, weil ich in meiner Generation und drumherum eine Tendenz zur Angepasstheit, zum konservativen, uniformen und mitunter dogmatischen Handeln beobachte. Im ständigen Bemühen, alles richtig zu machen, um ja das Schönste, Größte und Beste aus jeder noch so banalen Alltagssituation herauszuholen, haben wir jungen Menschen die Gelassenheit verloren. Getrieben vom Optimierungswahn, hat uns das Grundrauschen digitaler und analoger Konsumempfehlungen, das sagt, was wir essen, trinken, lesen, hören, wie wir uns kleiden, feiern, lieben und wen wir kennen sollen, voll im Griff.

Neulich etwa war ich zu einer Bootsfahrt über die Spree mit der Weißen Flotte eingeladen. Unter den Gästen war eine freundliche Familie mit niedlichen Kindern. Die Eltern wollten einen Kaffee – Achtung! – mit Milch trinken. Der Kellner an Deck wiederholte „Milchkaffee“, woraufhin der Vater ihn „Kaffee mit Milch“ korrigierte. Der Kellner sagte wieder „Milchkaffee“, der Vater schnaubte: „Kaffee mit Milch“. So ging das ein Weilchen. Als der Kellner dem Mann dann noch das gewünschte Glas Leitungswasser (wir befanden uns auf einem Fluss!) versagte – kniff der sichtlich verärgert die Augen zusammen und schüttelte den Kopf.

Die wahren Urheber des Eigenwilligen aber sind die alteingesessenen Berliner mit ihrer legendären Schnauze

In diesem Moment hätte ich mir gewünscht, dass der Kellner eine Rolle vorwärts macht. Vielleicht hätte auch jemand ein Rad schlagen können. Vielleicht mache ich das irgendwann mal.

Gerade jetzt, im Zeitalter des Turbokapitalismus mit seinen kommerziellen Algorithmen, die unseren Alltag choreografieren, braucht es Mut, die Dinge anders anzugehen. Berliner Lässigkeit lautet das Gebot der Stunde.

Die Pointe am Schluss muss deshalb jetzt ausfallen.

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