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Kolumne über Technikangst Wer hat Angst vor Frankenstein?

Nicht nur Querdenker, sondern auch romantische Eliten kämpfen mit moralischer Angstmache gegen Technik. Wolf Lotter hält in der neuen Ausgabe seiner Kolumne „Lotters Transformator“ dagegen.

Lieber echte Transformation statt fauler Zauber Nigel Hoare/unsplash

WOLF LOTTER ist Essayist, Buchautor und Gründungsmitglied von brand eins, für dass er mehr als zwei Jahrzehnte die Leitessays verfasste. Für unser Magazin taz FUTURZWEI schreibt er die essayistische Kolumne „Lotters Transformator“. Der erste Teil des nachfolgenden Essays (»Kultur und fauler Zauber«) ist in taz FUTURZWEI Ausgabe 26/23 erschienen.

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taz FUTURZWEI | Lotters Transformator fängt diesmal mit einer Erinnerung an, und zwar an den Satz von Arthur C. Clarke, den man gar nicht oft genug sagen kann in Zeiten der extremen Technikbeurteilung, also Zeiten wie diesen: »Jede hinlänglich fortgeschrittene Technologie ist von Magie nicht zu unterscheiden.« Daraus kann, wie ich hier mehrmals schon geschrieben habe, natürlich schnell fauler Zauber werden. Damit sind wir mitten im Problem aller Technikfreundlichkeit und Technikkritik dieser Tage: Beide Parteien haben ihre identitären Schützengräben ausgehoben und verstehen erstmal gar nichts oder zu wenig. Das ist eine so eingespielte Tradition, dass wir darüber reden müssen.

Im Jahr 1818 veröffentlichte die englische Autorin Mary Shelley ihre Geschichte Der Moderne Prometheus, die unsere Zeiten unter dem Namen eines der wesentlichen Protagonisten der Story kennen: Frankenstein. Der Original-Plot ist schnell erzählt. Wissenschaftler bastelt aus Leichenteilen einen neuen Menschen zusammen, der wiederum dreht durch, richtet Schaden an und verschwindet schließlich mit seinem Schöpfer im Eismeer.

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Die Moral der Geschichte ist unübersehbar: Technischer Fortschritt, hier: Medizin und Biologie, ist unberechenbar. Nächste Stufe: Techniker sind moralisch unverantwortlich. Und noch eine: Die Aufklärung, die auf nüchterne Technik und Logik setzt, ist ein Irrtum. Die letzte Stufe ist die, die heute die meisten Menschen überrascht, gerade die, die mit der Technikskepsiskultur aufgewachsen sind, die die Technikeuphorie seit den 1970er-Jahren abgelöst hat. Von einem Extrem ins andere – vom »Vorsprung durch Technik« zu »Selbstmord durch Technologien«. Was niemand fragt, oder selten, ist, warum Shelley, die Frau des romantischen Schriftstellers Percy B. Shelley, die Geschichte so erzählt hat. Der Legende nach entstammte die Idee eines launig gruseligen Vortragsabends in einer Villa am Genfer See, in die Byron und Shelley einige Gäste geladen hatten. Jeder erzählte eine Geschichte, Shelley die ihre, und die war so gruselig, dass sie der Rest der Truppe zum Aufschreiben ermunterte. Nun muss man wissen, was nicht nur die englische Romantik war (und die deutsche Romantik erst recht): eine Offensive der Intellektuellen und Meinungsführer, die angesichts des unübersehbaren Aufstiegs des Maschinenkapitalismus und der technischen Begeisterung ihrer Zeit ihre Felle davonschwimmen sahen.

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Die Romantik war immer die politische Speerspitze einer moralisierenden Elite aus Geisteswissenschaftlern und Künstlern, denen sehr wohl klar war, dass die neuen Zeiten der Aufklärung an ihren Geschäftsmodellen rütteln würden. Dabei waren sie selbst aufgebrochen, den alten Religionen und Aberglauben den Schneid abzukaufen, damit nun endlich ihrer schönen, wahren, guten Welt Tür und Tor geöffnet werde. Unter den Wissensarbeitenden des 18. und 19. Jahrhunderts, die sich in der Nähe der Transformation vom Ancien Regime zu neuen politischen Konzepten finden, sehen wir immer beide, die Stürmer, Dränger, Romantiker und die nüchternen Macher, und beide konnten sich nicht ausstehen. Da war die Maschine. Die Maschine machte klar, dass das, was Menschen bisher konnten, gute Routinen abbilden, ihnen nicht länger zum Vorteil gereichte. Der Maschinensturm war nur eine radikale Variante dieser Auffassung, doch die Anti-Technik-Kultur wurde von Geistesgrößen getragen. Goethes Zauberlehrling beschwört genau jenen faulen Zauber, den Clarke alternativ »Magie« nennt.

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Darüber wird nicht viel geredet. Frankenstein bleibt – ob Gentechnik oder Atomkraft – die Angst-Chiffre all jener, die sich nicht mit Technologien auseinandersetzen wollen und das große populistische Potenzial heben, mit dem sich das machen lässt. Manchmal ist das Wackersdorf, manchmal die Querdenkerei und die Covidioten. Das mag man nicht gerne hören, aber hinter beidem steckt das Konzept, dass man das, was man nicht verstanden hat, ganz großartig in politischen Nutzen umsetzen kann. Das Ohnmachtsgefühl ist eine politische Währung.

Die romantischen Eliten, die Schöngeister, Weltversteher, sie waren gekränkt von den Technologen, und sie wollten es ihnen heimzahlen, mit der schärfsten Münze, die es gibt, der Moral. Das spielt einerseits mit Urängsten, die jedes Kind im dunklen Keller hat, dort, wo es nichts sieht und nicht weiß, was hinter der nächsten Ecke ist. Die Grunderfahrung, schon vorzivilisatorisch, ist doch die: Was wir nicht kennen, macht uns Angst. Angst ist ein unbestimmtes Gefühl, das Wort kommt vom lateinischen Angus, Enge. Diese Enge gilt auf allen erdenklichen Ebenen. Angst schränkt ein. Deshalb ist Technikunterricht und Technikaufklärung so wichtig (wenn er Zusammenhänge klarmacht, den Kontext der Technik, siehe Teil 1).

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Der Philosoph Günther Anders berichtet uns 130 Jahre nach Shelley von etwas, was er »prometheische Scham« nennt. Der Philosoph Peter Sloterdijk hat das in einem 2023 erschienenen Essay Die Reue des Prometheus: Von der Gabe des Feuers zur globalen Brandstiftung aufgegriffen: Ein schlaues Buch, das eigentlich nur den Makel hat, dass die Technikgegner, die es ständig zitieren, es nicht gelesen haben. Halten wir uns an die Vorlage, an die Antike und an Anders. Prometheus hat bekanntlich den Menschen das Feuer gebracht, die Chiffre für Werkzeug, Technologie und Fortschritt, und dafür wurde er von den Göttern, also den aktuellen Machthabern seiner Zeit, an einen Felsen gekettet, wo ein Adler täglich ein wenig von seiner Leber fraß. Damit ist auch gleich mal klar, was denen blüht, die sagen, dass technischer Fortschritt aktuelle gesellschaftliche und politische Probleme lösen kann, jedenfalls zu deren Lösung beitragen, es ist stets Hochverrat an der aktuell herrschenden Deutungshoheit (die ja die wahre politische Macht ausübt). Was aber ist die »prometheische Scham«? Es ist die Scham, die der Emigrant Anders, vor den Nazis in die USA geflüchtet, empfindet, als er, am Fließband stehend, bemerkt, dass die Maschine viel schneller ist als er.

Der Mensch weiß das schon lange, erst das Fließband – wir denken an Charlie Chaplins Moderne Zeiten, wo er im Räderwerk der Fabrik gefangen ist –, dann der Computer. Die Einführung der Datentechnik wurde so wenig erklärt und moderiert wie die Einführung der Atomkraft oder irgendeiner anderen Technologie. Heute glauben Leute, dass es so was wie eine »künstliche Intelligenz« gibt, wo Algorithmen, die aus Versuch und Irrtum neue Muster ableiten können, Texte und Bilder aus dem Internet zusammenklauen. Der amerikanische KI-Pionier und Computervordenker Joseph Weizenbaum hat diese ungebildeten Eliten schon 1966 vorgeführt, als er ein einfaches Programm namens ELIZA schrieb, dass so tat, als wäre es ein intelligenter Psychotherapeut.

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Fast alle fielen auf ELIZA rein. So wie heute auf ChatGPT, ein sehr praktisches Tool zum Auffinden und Rekombinieren von Informationen aus dem Netz, eigentlich das, was Google und andere Suchmaschinen auch machen. Warum fällt das eigentlich nicht auf? Warum stellen die Eliten der Geistes- und Sozialwissenschaft ihre Unwissenheit in begeisterten Ausrufen zu einer Technik, die sie nicht annähernd verstanden haben, deren »revolutionäre Wirkung« sie aber beschwören, zur Schau? Weil sie unter ihresgleichen nicht auffallen und unter denen, die das besser wissen könnten, nicht enttarnt werden, aus Eigeninteresse. Die MINTler, also die Mathematik-Informatik-Technik-Menschen, genießen die völlig überzogenen Reaktionen, auch die, bei denen die üblichen Angsthasen der Technik vor den »schlimmen Folgen« der Technik warnen. Die Wahrheit ist banal und nützt niemanden.

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So wie die prometheische Scham und die damit verbundene Kränkung der alten Geisteseliten durch Techniker und technokratisches Management ohne Zweifel die Stimmung in der Liga der Angsthasen prägt, ist es bei den MINTlern die Euphorie, nun endlich, endlich halbwegs auf Augenhöhe mit den alten Wissensarbeiter-Adeligen zu kommen. Wer klug sagt und intellektuell, der denkt nur in Ausnahmefällen an Naturwissenschaftler und auch nur dann, wenn die in anderen, für die Nicht-MINTler leichter zugänglichen Bereiche tätig wurden. Albert Einsteins Ruhm rührt daher, dass ein Physiknobelpreisträger, dessen Hauptwerk kaum jemand außerhalb der Disziplin »verstanden« hat, eifrig in Presse und Radio und Vorträgen auch soziale und politische Fragen adressierte.

Robert Oppenheimer verdankt seine Popularität seiner Einsicht, sich von der von ihm mit geschaffenen Bombe zu distanzieren, und sein Kollege Richard Feynman ist nun, in Twitter-Zeiten, als Lieferant geistreicher Bonmots berühmt geworden. Techniker werden gesellschaftlich nicht von Haus aus geliebt, das müssen sie sich erst verdienen, durch Gewitztheit, also Anpassung an die Shelleys dieser Welt, die sie aber gleichsam hassen. Nicht leicht, das Ganze. Dazu kommt das gute alte Interesse, dass so oft übersehen wird.

Es erklärt, warum die MINTler den Ängstlichen und Ahnungslosen keinen reinen Wein einschenken. Endlich werden sie gehört, die Digitalisierung und der ganze faule Zauber drum herum ist ihre Chance. Endlich lesen sie den Katechismus, nicht mehr diese ganzen Politiker und Schöngeister und Schauspieler, die in Talkshows sitzen. Es ist, wie es in einem Film über das Silicon Valley heißt, der »Triumph der Nerds«.

Das ist brandgefährlich. Denn die Zahl der MINTler, die differenzierter an die Gesellschaft herangehen und nicht mit mechanistischem Denken infiziert sind, ist überschaubar, ganz ehrlich. Als Reaktion auf Kritik auf die KI-Euphorie kam dann immer wieder aus dieser Ecke, dass doch auch das Gehirn nur eine Maschine sei, die es zu programmieren gelte. Wozu also diese ganze Aufregung? Vielleicht hat Shelley schon einen Punkt gehabt, unbewusst, abseits ihrer Eifersucht auf die neuen Herren der Welt in den Labors: dass dort ein ziemlich einfältiger Geist herrscht, gekränkte Forscher rumirren, die jahrelang nur die Mulis des Systems waren und jetzt auch mal alle nach ihrer Pfeife tanzen lassen wollen. Oder anders gesagt: Wissenschaft braucht Kontrolle, Wissenschaft muss sich erklären. Und zwar ein bisschen plötzlich. Es ist also im Großen und Ganzen so wie mit den Wärmepumpen und den Gasheizungen, fragt Robert Habeck, der weiß das jetzt auch.

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Technik hilft, Technologie kann helfen. Aber sie muss nicht nur wissen, sondern dieses Wissen auch erklären können, teilen, das ist das eigentliche Problem. Gekränkte und nach Anerkennung gierende Leute auf beiden Seiten. Und gleichsam auch eine Attitude, dass alle anderen dämlich sind und eh nix verstehen. Das kennen wir gut, aus den 70er-Jahren beispielsweise, in denen die Atomlobby so mit Kritikern umging, was sich dann, rund um Tschernobyl 1986, auch durch Staaten und Institutionen – auch im Westen – wiederholte. »Das versteht ihr nicht«, das war die Standardantwort. Die Grüne Antje Vollmer, die spätere Bundestagspräsidentin, hat das sehr klar zusammengefasst, als endlich die Verantwortlichen von »verständlichen Ängsten« sprachen. Die Angst, wir erinnern uns, die Enge, ein Wort, das andere auch immer zu Ängstlichen macht, also zu Unwissenden und damit Ohnmächtigen. Vollmer hat das durchschaut: »Berechtigte Ängste?«, nein, meinte sie, »es waren nicht berechtigte Ängste, die sich zu Wort meldeten, sondern es waren Rechte von uns und berechtigte Ansprüche darauf, dass wir informiert werden, und zwar umfassend und nach dem besten Stand der Wissenschaft.«

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Es wären eben keine »Experten-Entscheidungen«, die da relevant wären, sondern das Wissen der Experten müsse in einen Zusammenhang, erschlossen und verständlich, vermittelt werden. Das gelte für Technik und Politik. Direkte Demokratie könne es beispielsweise nur geben, wo auch klar verstanden und vermittelt werden würde, was geschieht und »dass diese Entscheidungen in die Hände der Bevölkerung gehören«.

Das ist nun, liebe Herrschaften, wirklich Vorsprung durch Technik, nämlich die Technik, die angeblich so unglaublich komplexe Welt der Technologien und Ökonomie und des Rechts und der Politik nicht einfach als Schicksalsschlag hinzunehmen, sondern die jeweils zuständigen Institutionen und Personen herauszufordern, ihr Wissen herauszugeben, und zwar ein bisschen dalli. Dafür braucht man keine Gekränkten und keine Beleidigten und auch keine Techniker, die jetzt ihre Ära des Herrschaftswissens so genießen wollen wie die, die uns den Frankenstein aufgebunden haben. Dafür brauchen wir Selbstbewusstsein und Zivilcourage, also die Grundwerkzeuge des sozialen und menschlichen Fortschritts.

Der wahre technische Fortschritt heißt also: Teilhabe, Inklusion an dem, was uns umgibt, was uns Angst macht, damit diese Angst in Möglichkeiten verwandelt wird. Nicht dagegen, nicht dafür. Sondern nur eine Entzauberung. Das wäre kein fauler Zauber, sondern echte Transformation. Wissen ist Macht. Ruhig mal anfangen mit beidem, wenn's gut werden soll.

WOLF LOTTER ist Essayist, Buchautor und Gründungsmitglied von brand eins, für dass er mehr als zwei Jahrzehnte die Leitessays verfasste. Im November erschien sein neuer Essay Die Gestörten über die Transformation von Arbeit (brand eins books 2023 – 128 Seiten, 20 Euro).