Kommentar AKP-Herrschaft in der Türkei: Ohne Nachtisch ins Bett

Der Westen muss seine Beziehungen zur Türkei neu ordnen. Doch zu ächten ist der AKP-Staat, nicht die türkische Gesellschaft.

Ankara in der Wahlnacht: Die Polizei marschiert vor einem Wahllokal auf, wo Bürger die Stimmenauszählung überwachen wollen. Bild: reuters

Die AKP hat am Sonntag nicht allein durch Lug und Trug die Kommunalwahl in der Türkei gewonnen. Ja, ein Teil ihrer Wählerschaft hat nie die kompromittierenden Tonbandaufzeichnungen gehört und kennt die Gezi-Demonstrationen nur aus der hassverzerrten Darstellung von Ministerpräsident Recep Tayyip Erdoğan und seiner Verlautbarungsorgane.

Doch nicht alle AKP-Wähler sind desinformiert. So unterliefen in den vergangenen Wochen auch Erdoğan-Fans die Internetzensur und hießen auf Twitter die Sperre von Twitter gut. Diese Leute haben entweder materielle Interessen – acht Millionen Mitglieder soll die Partei haben, von denen sich viele schon deshalb nicht über Erdoğans Raubzüge aufregen, weil sie selbst, je nach Rang, ein sattes oder winziges Stück der Beute namens Staat einstreichen.

Oder sie fühlen sich von der alten Elite nicht repräsentiert, verachten den säkularen Lebensstil, finden Straßbenbau wichtiger als Demokratie oder teilen Erdoğans Ideologie aus Islamismus, Nationalismus und Wirtschaftsliberalismus, womöglich auch ein bisschen von der soziopsychologischen Disposition aus Größen- und Verfolgungswahn, die den Ministerpräsidenten auszeichnet.

Im Großen und Ganzen hat die AKP auf dieser Grundlage die Wahl gewonnen – und dort, wo es sonst nicht gereicht hätte, allen voran in Ankara, offenbar nachgeholfen. Zuzutrauen ist das dieser Regierung allemal. Wären kurz vor der Wahl nicht die – illegalerweise abgehörten – Planspiele veröffentlicht worden, die Regierung Erdoğan hätte womöglich aus wahltaktischen Gründen unter einem inszenierten Vorwand Syrien angegriffen und en passant alle Nato-Staaten in den Kriegszustand versetzt.

Darauf muss die westliche Welt reagieren. Sie muss ihre Beziehungen zu einem Land neu regeln, das von einer Clique regiert wird, die für den eigenen Machterhalt zu allem bereit ist: von der Anzettelung eines Kriegs über die Manipulation von Wahlen, von der Unterwerfung der Justiz bis zur exzessiven Polizeigewalt.

Ein Land, das in Sachen Meinungsfreiheit in einer Liga mit Iran, China und Russland spielt und es in Sachen Korruption mit jeder Bananenrepublik aufnehmen kann, gehört auch so behandelt. Das heißt: Man muss, wie Boris Kálnoky neulich in der Welt schrieb, die AKP-Führung um Erdoğan und seine persönliche Entourage ächten. Man muss ihnen Einreiseverbote erteilen. Ihre Konten im Ausland sperren. Geschäfte mit ihnen meiden. Sie ohne Nachtisch ins Bett schicken.

Sicherheitsrisiko Erdoğan

Die Türkei steuert unter Erdoğan auf eine Diktatur zu. Und sie ist ein Sicherheitsrisiko – zuvörderst für die eigenen Bürger, aber auch für die Nato-Länder. Und natürlich ist es an der Zeit, die Beziehungen zur EU zu suspendieren. Es wäre der Moment, an dem, sagen wir, Claudia Roth oder Gregor Gysi diese Forderung erheben könnte anstatt sie der CSU zu überlassen. Bei einem wie CSU-Generalsekretär Andreas Scheuer ist es bloß das alte Ressentiment, das sich in neue Argumente kleidet.

Aber zu ächten ist der AKP-Staat, nicht die türkische Gesellschaft. Nicht all die Menschen, die in der Wahlnacht die Stimmauszählung überwacht haben, immer noch für eine korrekte Stimmauszählung kämpfen und das repräsentieren, was Europa gern wäre. Ihnen muss man beistehen.

Konkret heißt das zum Beispiel: Unterstützung für die kommunalen Verwaltungen, die von der Opposition regiert werden, von der kemalistisch-sozialdemokratischen CHP, der prokurdischen BDP oder gar der nationalistischen MHP. Die CHP-Regierung der säkularen Metropole Izmir etwa bekommt nur wenig Unterstützung vom Zentralstaat, weshalb in Izmir kaum noch jemand investiert. Dort kann Europa etwas tun.

Denn das Merkel-Europa hat zur autoritären Wende in der Türkei beigetragen. Vor zehn Jahren, zu Beginn der AKP-Herrschaft, war die türkische Gesellschaft nicht in der derselben Weise polarisiert wie heute. Damals gab es ein Unterfangen, das jenseits aller sonstigen Differenzen, fast sämtliche Milieus einte: die Mitgliedschaft in der EU. Daran glaubt schon lange niemand mehr. Und die Abweisung der Türken fand nicht nur an Verhandlungstischen in Brüssel statt; jeder türkische Bürger, der sich einmal um ein Touristenvisum für ein beliebiges EU-Land bemüht hat, kennt sie aus eigener Erfahrung.

Visa könnten bald wieder zum Thema werden. „Bloß raus aus diesem Scheißland“, war nach der Wahl die erste Reaktion vieler jüngerer Gegner der AKP. Falls Erdoğan nun – oder nach einem Erfolg bei der Parlamentswahl im kommenden Jahr – wie angekündigt zum Rachefeldzug ausholt, könnten viele tatsächlich das Land verlassen wollen, in manchen Fällen gar müssen. Einreiseerleichterungen für diese Menschen entsprächen Einreiseverboten für die anderen. Verachtenswert ist nicht die Türkei, verachtenswert ist die Bande, die sich ihrer bemächtigt hat.

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Von Juli 2007 bis April 2015 bei der taz. Autor und Besonderer Redakteur für Aufgaben (Sonderprojekte, Seite Eins u.a.). Kurt-Tucholsky-Preis für literarische Publizistik 2011. „Journalist des Jahres“ (Sonderpreis) 2014 mit „Hate Poetry“. Autor des Buches „Taksim ist überall“ (Edition Nautilus, 2014). Wechselte danach zur Tageszeitung Die Welt.

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