Kommentar Amoklauf in München: Die ganz große Notstandsübung

Die Münchner Geschehnisse belegen, in was für einem hysterischen Zustand sich die Gesellschaft befindet. Sogar die Bundeswehr stand bereit.

Polizeibeamte stehen an Absperrungen vor einer McDonald`s Filiale

Polizeipräsenz am Samstag vor der Schnellimbiss-Filiale, in deren Nähe die Schüsse fielen Foto: dpa

Die Angst vor dem Terror macht bislang Undenkbares denkbar – auch in der Bundesrepublik. In München hätte es sogar zu einem Einsatz der Bundeswehr kommen können. Bundesverteidigungsministerin Ursula von der Leyen hatte am Freitag nach eigenen und von Innenminister Thomas de Maizière bestätigten Angaben bereits eine Einheit der Feldjäger in Bereitschaft versetzt. Es wäre der Höhepunkt einer Nacht der Irrationalität gewesen.

Wenn zusätzlich zu den 2.300 Polizeikräften inklusive der GSG 9 auch noch die Feldjäger in die bayerische Landeshauptstadt ausgerückt wären, wäre das ein Tabubruch gewesen – allerdings einer mit Ansage. In der Bundesregierung gibt es schon lange Überlegungen, die Bundeswehr auch zur Antiterrorbekämpfung im Inneren einzusetzen. Dabei beruft sie sich auf ein Bundesverfassungsgerichtsurteil aus dem Jahr 2012, das die bis dahin äußerst begrenzten Möglichkeiten des Soldateneinsatzes im Inland deutlich erweitert hat.

Im Grundgesetz ist festgeschrieben, dass die Bundeswehr nur zur „Abwehr einer drohenden Gefahr für den Bestand oder die freiheitliche demokratische Grundordnung“ (Artikel 87a Absatz 2 GG) oder im Falle „einer Naturkatastrophe oder bei einem besonders schweren Unglücksfall“ (Art 35 Abs. 2, Abs. 3 GG) zur Unterstützung der Polizeikräfte im Inneren einsetzen darf. Die Karlsruher Richter definierten vor vier Jahren, unter einem solch besonders schweren Unglücksfall sei eine ungewöhnliche Ausnahmesituationen von katastrophalem Ausmaß zu verstehen, die auch „absichtlich herbeigeführt“ werden könne. Nach Interpretation der Bundesregierung kommt das auch „bei terroristischen Großlagen in Betracht“, wie es im gerade veröffentlichten Weißbuch heißt.

Eine solche Auslegung des Grundgesetzes ist höchst fragwürdig und umstritten. Doch auch wenn der vorbereitete Feldjäger-Einsatz in München verfassungskonform gewesen wäre, stellt sich die Frage, was in diesem Land los ist, dass er überhaupt erwogen wurde. Denn was ist am Freitag geschehen? So fürchterlich das Blutbad im Olympia-Einkaufszentrum auch gewesen ist: Es handelte sich um die räumlich und zeitlich begrenzte Tat eines Einzelnen. Für die Angehörigen der neun Todesopfer und die zahlreichen Verletzten ist das selbstverständlich kein Trost. Aber diese Feststellung ist entscheidend für die Einschätzung der Tat.

Gegen 20.30 Uhr, also etwa zweieinhalb Stunden nach dem Amoklauf, hat sich der 18-jährige Täter in der Nähe des Einkaufszentrums vor den Augen von Polizeibeamten erschossen. Damit hätte der polizeiliche Großeinsatz beendet sein können. Stattdessen lief er dann erst auf vollen Touren. Auf der Basis der Fehlinterpretation eines wegfahrenden Autos und unzutreffender Zeugenaussagen („Langwaffen“) wurde aus einem „ganz normalen“ Amoklauf ein vermeintlich terroristischer Akt, von dem ganz München bedroht schien. Bis weit nach Mitternacht wurde die gesamte Stadt in einen bisher nicht gekannten Ausnahmezustand versetzt. Eine derartige Notstandsübung hat die Republik noch nicht erlebt.

Zu naheliegende Szenarien

Vom Brandanschlag auf das Altenheim der Israelitischen Kultusgemeinde 1970, bei dem sieben jüdische Hausbewohner getötet wurden, über die Geiselnahme und Ermordung israelischer Sportler bei den Olympischen Sommerspielen 1972 bis zum neonazistisch motivierten Attentat auf das Oktoberfest 1980, bei dem 13 Menschen getötet und 211 verletzt wurden: In der jüngeren Geschichte Münchens gab es schon mehrere schlimme Terrorakte. Doch niemals zuvor führten sie zu derart drastischen Reaktionen.

Diesmal allerdings schien der Deutschland oft prophezeite große dschihadistische Angriff zu naheliegend, als dass noch Platz für Besonnenheit gewesen wäre. Die Intensität der staatlichen Maßnahmen entsprach dabei dem Panikgrad der Bevölkerung, wie die zahllosen Fehlmeldungen über angebliche Schießereien eindrücklich belegen. Auch das gehört zu der neuen Qualität dessen, was am Freitag in München geschehen ist.

Dass an diesem Freitagabend nichts mehr abwegig schien, ist durchaus verständlich angesichts der schrecklichen Terrorakte am 13. November 2015 in Paris, wo es eben nicht nur einen lokal eingrenzbaren Anschlag gab, sondern Attentate an gleich acht verschiedenen Orten in der Stadt. Deswegen wäre es auch wohlfeil, mit dem Wissen von heute die polizeilichen Aktivitäten vom Freitag in Grund und Boden zu kritisieren. Sicher waren sie im Nachhinein betrachtet unverhältnismäßig, weil sie auf falschen Prämissen fußten. Aber immerhin haben die Sicherheitsbehörden demonstriert, dass sie auf den Fall der Fälle vorbereitet sind.

Die Münchner Geschehnisse belegen aber auch, in welch hysterischem Zustand sich die Republik befindet. Dazu gehört, dass von der Leyens Erwägung eines Einsatzes der Bundeswehr im Inneren am Freitag zu keinem Aufschrei der Empörung mehr führt. Was passiert erst mit diesem Land, wenn es wirklich zu einem terroristischen Anschlag kommt? Darüber nachzudenken, bereitet großes Unbehagen.

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Jahrgang 1966. Arbeitet seit 2014 als Redakteur im Inlandsressort und gehört dem Parlamentsbüro der taz an. Zuvor fünfzehn Jahre taz-Korrespondent in Nordrhein-Westfalen. Mehrere Buchveröffentlichungen (u.a. „Endstation Rücktritt!? Warum deutsche Politiker einpacken“, Bouvier Verlag, 2011). Seit 2018 im Vorstand der taz-Genossenschaft.

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