Kommentar Freiheit: Das Codewort lautet Emanzipation

Die Opposition definiert sich über Gerechtigkeit. Der Aspekt Freiheit wird dabei oftmals ausgeblendet. Das geschieht völlig zu Unrecht.

Freiheit bedeutet auch, sich von klassischen Rollen zu lösen: Tangotanzende Männer Bild: reuters

Zuletzt starrte ich ziemlich konsterniert auf die Pädophiliedebatte. Allen Respekt für die Opfer! Aber wie konnte es geschehen, dass diese alten Kämpfe alle gegenwärtigen Anliegen der Opposition überdecken?

Allerdings war schon zuvor der Eindruck da, dass im Wahlkampf die linken und linksalternativen Angebote keine richtige Strahlkraft entwickeln. Es ist schick, sich darüber zu beklagen, dass Merkel aus der Politik die Luft herauslässt. Die interessante Frage aber ist, wie ihr das gelingen kann. Das hat etwas mit der Opposition zu tun. Damit meine ich nicht das Klein-Klein um Veggie-Day und Steuererhöhungen. Und ich meine auch nicht die Tatsache, dass Abwehrkämpfe gegen die NSA schwer in politischen Lagern zu verorten sind.

Ich meine, der Grund liegt tiefer. Mein Eindruck ist, dass die Opposition sich derzeit allzu eindeutig über den Aspekt der Gerechtigkeit definiert und dabei die Aspekte der Freiheit und der Selbstverwirklichung allzu sehr vernachlässigt.

Gerechtigkeit und Freiheit schließen einander nicht aus

Man muss inzwischen geradezu daran erinnern: Freiheit, Selbstverwirklichung – das sind linke Issues! Das Codewort lautet: Emanzipation. Nicht nur Emanzipation der Frauen, sondern aller Menschen – von den tradierten und gesellschaftlich vorgegebenen Rollenzuschreibungen. Selber denken! Ein selbstbestimmtes Leben führen! Das ist der Punkt.

Heute aber setzt gerade die linke Seite Selbstverwirklichung umstandslos mit Neoliberalismus und Rücksichtslosigkeit gleich. Das einsame Selbst, das sich in Selbstmanagement und Selbstoptimierung verfängt, wird in theoretischen Schreckensbildern beschworen. Was dabei vergessen wird: Es gibt dieses leere Selbst nicht. Menschen leben immer in Beziehungen und Strukturen. Und um sich in ihnen gut zu verorten, brauchen sie beides: Gerechtigkeit und Freiheit.

Der Intellektuelle, der bislang die besten Hinweise darauf gegeben hat, wie man beides zusammendenken kann, ist Richard Rorty. Für ihn sind Freiheit und Gerechtigkeit mit verschiedenen Sprechweisen verbunden, die nicht zusammenpassen, die wir aber beide brauchen, so wie wir auch verschiedene Werkzeuge brauchen, Malerpinsel und Brecheisen etwa.

Über die Klassiker, die den Aspekt der Freiheit stark machen (Nietzsche, Proust) oder den der Gerechtigkeit (Dickens, Habermas), sagt Rorty: „Die einen erklären uns, dass wir nicht nur die Stammessprache sprechen müssen, dass wir vielleicht unsere eigenen Wörter finden können, dass wir möglicherweise uns selbst gegenüber verpflichtet sind, sie zu finden. Die anderen erklären uns, dass das nicht die einzige Verpflichtung ist, die wir haben. Beide haben recht, aber es gibt keine Möglichkeit zu erreichen, dass beide eine einzige Sprache sprechen.“

Links sein bedeutet nicht, Banken abzumeiern

Das ist alles andere als nur eine theoretische Einsicht. Wenn nur über Freiheit gesprochen wird, fehlt das Soziale. Das kann man gut bei der FDP beobachten. Wenn man aber nur über Gerechtigkeit spricht, bekommt das etwas Pädagogisches und Blutleeres. Man landet dann entweder bei den neobiedermeierlichen Grünen-Plakaten mit ihrer schrecklichen „Und Du?“-Ikeaisierung oder bei dem schlichten Jakob-Augstein-Gedanken, dass es, um links zu sein, schon ausreicht, Banken abzumeiern.

Die Wähler sind nicht doof. Die Mehrheit in diesem Land bekommt, wer die aktuell beste Möglichkeit aufzeigt, Freiheit und Gerechtigkeit einigermaßen gut zusammen leben zu können. Es gibt sicher bessere Wege als Schwarz-Gelb. Um sie aufzuzeigen, sollte die Opposition das Stichwort Emanzipation wiederentdecken. Solidarität geht nur mit ihr zusammen.

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Dirk Knipphals, Jahrgang 1963, studierte Literaturwissenschaft und Philosophie in Kiel und Hamburg. Seit 1991 Arbeit als Journalist, seit 1999 Literaturredakteur der taz. Autor des Sachbuchs "Kunst der Bruchlandung. Warum Lebenskrisen unverzichtbar sind" und des Romans "Der Wellenreiter" (beide Rowohlt.Berlin).

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