Kommentar Pflichtjahr nach der Schule: Lasst die Jugendlichen in Ruhe!

Die Debatte über ein Pflichtjahr nach der Schule nervt, weil sie die Menschen bevormundet. Sinnvoller wäre ein Recht auf einen freiwilligen Dienst.

Ein Junger Mann hilft einer Bewohnerin einer Wohngemeinschaft für Demenzkranke in Münster

Pflichtjahr als Lösung des Fachkräftemangels in der Pflege? Stellt lieber mehr Menschen ein Foto: dpa

Seit einer Woche diskutieren die Menschen in Deutschland darüber, ob man für Jugendliche ein Pflichtjahr nach der Schule einführen sollte – wahlweise in einer sozialen Einrichtung oder in der Bundeswehr. Erstaunlich viele progressive Menschen haben sich dafür ausgesprochen. Warum nur?

Natürlich hätte ein solches Pflichtjahr Vorteile. Pflichtdienste haben einen demokratisierenden Effekt: Alle müssen, denn alle sind gleich. Gleichzeitig würde der Fachkräftemangel in der Pflege abgefedert. Perfekt, oder? Sogar die Konservativen wären glücklich, denn das Nachwuchsproblem der Bundeswehr wäre gelöst. Aber wer die Freiheit eines Menschen so stark beschneiden will, dass er ihm für ein Jahr vorschreibt, wie er seine Zeit verbringen muss, der braucht einen sehr guten Grund dafür. Und so ein bisschen Gesellschaftszusammenhalt und Fachkräftemangel reichen da nicht aus.

Es fängt schon damit an, dass das Konzept aus düsteren Zeiten stammt: Bei den Nazis hieß das „Reichsarbeitsdienst“. Und sogar das Wort „Pflichtjahr“ gab es damals schon. 1938 verpflichteten sie alle Frauen unter 25 zu einem Jahr im Haushalt und in der Landwirtschaft. Die „Pflichtjahrmädel“ sollten so zu guten Hausfrauen werden. Und das Fehlen der Arbeitskraft der Männer ausgleichen, die für den Krieg eingezogen wurden.

Die Argumentation von damals ist der von heute überraschend ähnlich: Die Jugendlichen sollen geformt werden. Und sie sollen Arbeitskräfte ersetzen, die aus diversen Gründen fehlen. Allein diese Parallele müsste schon stutzig machen. Dazu kommt: Erinnern sich denn all diese Menschen, die diese streberhaften Forderungen stellen, daran, wie es war, als sie selbst die Schule beendet hatten?

Die Zeit nach der Schule ist einmalig. Wir sind so empfänglich für Eindrücke wie später vielleicht nie mehr

Ich erinnere mich noch gut, denn es ist erst 11 Jahre her. Zum ersten Mal in meinem Leben war ich frei. Es war ein schwindelerregendes Gefühl. Ich wollte raus, das Leben und die Welt kennenlernen. Ich fuhr erst nach Osteuropa, dann nach Afrika.

Wäre ich gezwungen gewesen, ein Jahr dranzuhängen, um in einem deutschen Pflegeheim oder bei der Bundeswehr zu arbeiten (der Gedanke scheint mir reichlich absurd) – ich hätte alles versucht, um dem zu entgehen. Obwohl ich gerne etwas Sinnvolles tun wollte. Aber ich wollte selbst entscheiden, was. So ging es auch meinen Freundinnen. Eine zog für ein Jahr nach Rumänien und betreute Kinder mit Behinderung, eine machte ein FSJ Kultur in Erlangen, eine kam mit mir nach Tansania, wo wir an einer Schule Englisch unterrichteten. Wir waren damals auf der Suche, denn wir wussten noch nicht, wer wir sind.

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Uns alle hat diese Zeit nach dem ­Abitur extrem geprägt. Meine Freundin in Rumänien arbeitet heute als Sozialarbeiterin mit Rumänen in Berlin, die Freundin, die das FSJ Kultur gemacht hat, ist bis heute in ihrer Einrichtung geblieben. Und ich habe immer noch Kontakt zu Menschen, die ich auf dieser ersten Reise nach Tansania kennengelernt habe. Wäre es wirklich besser für die Gesellschaft gewesen, wenn wir alle gezwungenermaßen im Pflegeheim oder in der Kaserne gestanden hätten?

Diese Zeit nach der Schule ist einmalig. Wir sind so empfänglich für Eindrücke wie vielleicht später nie mehr. Umso verheerender wäre es, diese Zeit auch noch zu reglementieren. Denn wer hätte schon die Muße, nach einem Jahr im Pflegeheim noch ein weiteres, frei gewähltes Entdeckungsjahr irgendwoanders dranzuhängen?

Ich habe eine bessere Idee: Ein Freiwilligendienst sollte keine Pflicht sein, sondern ein Recht. Jeder aus der Europäischen Union sollte die Chance haben, einmal in seinem Leben so etwas zu tun, unabhängig vom Alter und vom Einkommen. Mit einer guten Organisation im Rücken, einem angemessenem Taschengeld. Und einem Sprachkurs, zur Belohnung. Denn wichtiger als eine deutsche Gesellschaft, die zusammenwächst, ist die europäische. Erzwingen kann man das nicht. Aber man kann die besten Voraussetzungen dafür schaffen.

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Jahrgang 1987, seit 2012 bei der taz – in den Ressorts Wochenende und Reportage/Recherche. Schwerpunkte: Ländlicher Raum, Israel, Russland, Rechtsextremismus, Sozialreportagen, Rekonstruktionen

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