Kommentar Wahlen in Istanbul: Erdoğans Eigentor

Die Wahlkommision hat den Wahlsieg der Opposition in Istanbul für nichtig erklärt – auf Anweisung des türkischen Staatschefs Erdoğan.

Ein wütender Demonstrant in Istanbul

Entsetzt: Ein Anhänger des Republikanischen Volkspartei nach der Annulierung des Wahlsieges Foto: dpa

Sie haben es getan. Nach langem Zögern hat sich am Ende doch die Gier nach Macht und Geld gegen die Vernunft durchgesetzt und auf Anweisung von Recep Tayyip Erdoğan die zentrale Wahlkommission der Türkei am Montagabend den Sieg der Opposition bei den Kommunalwahlen in Istanbul für nichtig erklärt. Erdoğan hat damit eine letzte Grenze überschritten. Konnte in der Türkei schon lange nicht mehr von fairen Wahlen gesprochen werden, weil die Regierung die gesamten Medien kontrollierte und sämtliche staatlichen Ressourcen für ihre Wahlkämpfe einsetzte, wurde zumindest der Wahlakt selbst bislang nicht angetastet.

Das ist nun auch vorbei, die letzten demokratischen Kulissen ließ Erdoğan Montagabend auch noch abräumen. Die Botschaft dieser Entscheidung ist klar: Wenn ein Wahlergebnis seine Macht und seine materiellen Interessen direkt bedroht, ist es auch vorbei mit der formalen Demokratie in der Türkei. Die Willkür dieser Entscheidung ist so offensichtlich, dass sich die derart genötigte Wahlkommission selbst weigerte das Ergebnis bekannt zu geben und am Abend fluchtartig die Szene räumte.

Doch wenn es am finstersten ist, ist auch die Rettung nahe. In Ekrem Imamoğlu, dem Wahlsieger von Istanbul, ist Erdoğan ein Gegner erwachsen, der ihm und der restlichen gierigen Garde der AKP noch das Fürchten lehren wird. In einer historischen Rede vor tausenden Anhängern kündigte Imamoğlu noch in der Nacht in Istanbul den Widerstand der Opposition und der Istanbuler Bevölkerung an. Er beklagte nicht nur den Verrat der Wahlkommission, er machte seinen Anhängern auch erfolgreich Mut, für die Demokratie in der Türkei einzustehen. Wie man an unzähligen Reaktionen in den sozialen Medien sehen konnte, gelang es ihm, die drohende Depression vieler Oppositioneller in eine kämpferische Stimmung zu drehen. Imamoğlu wächst in der Krise zu einem echten Führer der gesamten Opposition heran.

Doch das ist nicht das einzige Gegentor, dass Erdoğan mit seiner Entscheidung geschossen hat. Nicht nur die innertürkische, auch die internationale Reaktion ist verheerend. Die EU Kommission, das EU-Parlament, der Europarat, die Bundesregierung und etlichen prominenten Politikern der Opposition in Deutschland ist klar, dass Erdoğan mit dieser Entscheidung eine rote Linie überschritten hat, was nicht ohne Konsequenzen bleiben kann. Die EU-Kommission forderte, die Wahlkommission solle die Gründe für ihre Entscheidung offenlegen, was nicht passieren wird, weil es keine plausiblen Gründe gibt. Das wird Erdogan im Westen weiter isolieren.

Daraus folgte bereits unmittelbar eine Entscheidung der westlichen internationalen Finanzmärkte. Die Türkei ist für Investoren verbrannt. Noch in der Nacht rutschte der Kurs der Lira erneut ab und liegt jetzt schon fast wieder im für die türkische Wirtschaft tödlichen Bereich, den sie im letzten Sommer bei der Auseinandersetzung zwischen Erdoğan und Trump erreicht hatte. Nur dass die Wirtschaftskrise jetzt viel weiter fortgeschritten ist. „Mit dieser Entscheidung hat sich Erdoğan selbst in den Kopf geschossen“, sagte ein bekannter Kolumnist gestern Nacht, „er weiß es nur noch nicht“.

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