Kommentar : Keine kraftvollen Symbole
Soziale Bewegungen brauchen ihre Rituale. Die des 1. Mai sind verbraucht.
Der „Tag der Arbeit“ ist der Höhepunkt des Gewerkschaftsjahres. Die meisten kommen zu diesem Fest, weil sie dort alte Bekannte treffen oder weil sie davon ausgehen, dass man erwartet, sie dort zu sehen. Bürgermeister Jens Böhrnsen stand in der zweiten Reihe vor dem Lautsprecherwagen und war einer der wenigen, die – der Körperhaltung nach zu urteilen – über weite Strecken zuhörte. Nur hin und wieder kontrollierte er diskret die neuen Nachrichten auf seinem Smartphone.
Verloren stand da schräg hinter ihm ein Grüppchen der Firma mdexx, dieser kämpferischen Belegschaft einer Siemens-Tochterfirma, die in den letzten Jahren systematische Ausgliederung und Arbeitsplatzabbau erlebt hat. Aber der 1. Mai kräftigt nicht mehr für den Arbeitskampf, das gewerkschaftliche Ritual hat seine suggestive Kraft verloren.
Ein Ritual, das so kraftvoll wirken könnte wie das Abendmahl in der christlichen Tradition, kann man nicht erfinden. Das „Mahl der Arbeit“ am Vorabend der Feier des Tages der Arbeit ist für auserwählte Funktionäre da und eher ein Pflichttermin. Da die Gewerkschaftsbewegung keine anderen Symbole hat, steht die Rede im Mittelpunkt – gerade die Rede hat sich entleert. Man könnte sie genauso auf lateinisch halten. Oder weglassen.
Leser*innenkommentare
LinksDemokratisch
Gast
@ Klaus Wolschner:
Sicher, der 1. Mai ist zu einem Ritual verkümmert. Einem Ritual mit den immergleichen Appellen und Forderungen. Das ermüdet zusehends. Es ermüdet, weil zwischen dem von den Gewerkschaften proklamierten Anspruch und ihrem Handeln eine riesige Lücke klafft.
Da hätten Sie als Journalist ansetzen müssen. Sie hätten zum Beispiel auf die Rolle der Gewerkschaften bei der Einführung der Agenda 2010 eingehen können. Wo war denn deren entschiedener Widerstand gegenüber dem Abbau der Sozialstandards? Mini-Jobs, 400-Euro-Jobs, 1-Euro-Jobs, miesbezahlte Leiharbeit, Aufstocker und das repressive Hartz 4-Lohndumping-System - das sind die Stichworte, die wesentliche Ursachen für die Lohnstagnation und das Verarmen des unteren Drittels der Bevölkerung sind. Hier haben die Gewerkschaften versagt. Und Sie kein Wort darüber verloren.
Die wachsweiche Haltung gerade gegenüber der Schröder-Fischer-Regierung hat auch damit zu tun, dass viele Gewerkschafter zugleich Genossen in der spezialdemokratischen Partei waren und sind - nicht wenige auf gutbezahlten Versorgungsposten. Mit den Grünen ist es ähnlich. Seit die verbürgerlichten Couch-Revolutionäre an den Fleischtöpfen der Macht sitzen, machen sie alles mit und treten mit Vorliebe nach unten, Hauptsache dabei sein und Vorteile abschöpfen.
Solange an der Spitze der Gewerkschaften auf das System eingenordete Führungskräfte stehen, kann man davon ausgehen, dass auch die nächsten Maifeiern ähnlich verschlafen ausfallen und bestenfalls mit ein paar Bierchen guten Maibocks zu ertragen sein werden. Solange Journalisten derart oberflächlich von solchen Veranstaltungen berichten, kann man sich den Kauf der Zeitungen getrost sparen. Papier fürs Säubern des Katzenklos gibt´s umsonst.
Till Brüggemann
Gast
Danke, lieber Klaus Wolschner! Endlich mal ein Journalist, der die heutigen Mai- Kundgebungen so sieht, wie sie sind: egal. Platitüden reichen eben nicht, um die zunehmende Schieflage der Gesellschaft zu ändern.