Kostenlose Ressource Ehrenamt: Arbeit für 0,00 Euro

Die Trennung zwischen männlichen „Ehrenamts-Beamten“ und weiblicher Wohlfahrtspflege zieht sich durch die Geschichte - bis heute. Ein Besuch bei der Historikerin Gisela Notz.

Es sind nicht nur die Bereiche Altenheim und Kindererziehung, in denen Ehrenamtliche unverzichtbar sind. Bild: dapd

„Vor einigen Jahren wurde berechnet, dass die Ehrenamtlichen in Deutschland weit über viereinhalb Milliarden Stunden pro Jahr an Arbeit investieren. Wenn man dabei nur einen durchschnittlichen Stundenlohn von 7,50 Euro zugrunde legt […], dann kommt man auf eine Summe von 35 Milliarden Euro. Was für eine Zahl! Beeindruckend! Aber was sie tagtäglich an unzähligen Orten unserer Gesellschaft leisten, ist nicht in Euro und Cent zu beziffern […], ihr Einsatz ist unbezahlbar.“

Frank-Walter Steinmeier zum „Tag des Ehrenamtes“ 2011

Dr. phil. Gisela Notz, Sozialwissenschaftlerin u. Historikerin. 1942 in Schweinfurt/Main geboren, die Eltern waren Arbeiter. 1958 Ausbildung und Arbeit als Stenotypistin, dann zweiter Bildungsweg und Studium der Industriesoziologie, Arbeitspsychologie und Erwachsenenbildung, TU Berlin. 1966 Geburt der Tochter. 1970–1977 WG-Bewohnerin in Berlin. Seit 1978 Lehrbeauftragte an verschiedenen Universitäten: Schwerpunkte u. a. bezahlte und unbezahlte Frauenarbeit; Alternative Ökonomie; Historische Frauenforschung. 1979-2007 Arbeit am Friedrich-Ebert-Institut, Forschungsabteilung für Sozial- und Zeitgeschichte. 1985–87 nebenbei und unbezahlt Redakteurin der Zeitschrift „Beiträge zur feministischen Theorie und Praxis“. Promotion 1986,TU Berlin. Von 2004–2010 Bundesvorsitzende von Pro Familia. Sie ist im Stiftungsrat der Bewegungsstiftung. Sie ist Autorin zahlreicher Texte und Bücher, u. a. von: „Warum flog die Tomate?“ (2006); „Feminismus“ (2011); „Theorien alternativen Wirtschaftens“ (2011).

Gisela Notz lebt im berühmten Frauenwohnprojekt Beginenhof in Berlin Kreuzberg. Schon von Weitem schimmert die lang gestreckte Wohnanlage mit ihren großen Balkonen und Fenstern durch die Bäume der Parkanlage hindurch. Die großzügig geschwungene und farbenfrohe Fassade steht beim Nähertreten in seltsamem Kontrast zu einem abweisenden, streng vergitterten Eingangsbereich, zur Fischaugenkamera am Klingelbrett. Hinter der schubweise sich öffnenden Automatiktür liegen ein blühender Garten, der Aufzug und die persönlich gestalteten Laubengänge zu den Wohnungen.

Frau Notz empfängt uns an ihrer Wohnungstür und sagt auf unsere Frage zur Verbarrikadierung lächelnd: „Ja, neulich hatte ich mal Handwerker reingelassen, die bei mir klingelten, und da habe ich über die Gegensprechanlage gehört, wie einer sagte: ’Das ist ja ein Hochsicherheitstrakt hier!’ Ganz so ist es natürlich nicht, aber wir sind schon ein wenig abgeschottet.“ Frau Notz bewohnt eine Maisonettewohnung im 5. Stock mit Blick über die Dächer. Sie erzählt: „Das Konzept war ’Eigentum in Frauenhand‘, das ist jetzt nicht mein Konzept, es war schon fertig, als ich kam. Es gefällt mir sehr gut hier, aber mir wäre es lieber, wenn Eigentum vergemeinschaftet, eine Genossenschaft gegründet würde.

Dann wäre die Sozialstruktur auch ein bisschen gemischter bei uns. Ich treffe oft Frauen, die hätten auch gerne hier gewohnt, hatten aber das Geld nicht. Also das muss man sich schon leisten können. Ich hätte mir die Wohnung mit 40 Jahren auch nicht kaufen können, weil ich das Geld gar nicht hatte und weil ich auch nix geerbt habe. Aber ich habe in den letzten Jahren relativ gut verdient. Damals gab es auch noch einige Arbeitsstellen für Akademikerinnen“, fügt sie sarkastisch hinzu.

„Es gibt übrigens drei Männer im Haus, einer davon ist 102. Da gibt es keine Exklusion. Gekauft haben aber nur Frauen. 53 Frauen haben die Wohnungen erworben. Es gibt vier große Wohnungen mit 104 qm – so wie diese hier – und die anderen sind zwischen 56 qm und 76 qm groß. Einige der Käuferinnen haben vermietet, das bringt auch eine Mieterinnenstruktur rein, das ist schön. Aber andererseits wird dabei Geld gemacht, mit dem ’Besitz in Frauenhand‘. Also wenn man eine Wohnung kauft, für sich selber, das ist okay, aber … na ja, das kann jede selbst bestimmen. Hier in Kreuzberg ist das schon sehr privilegiert, so zu wohnen.“

Sie schenkt uns Tee ein und sagt: „ Aber wir wollten ja über das Ehrenamt reden. Ich dachte, ich gehe auch ein bisschen auf die Geschichte des Ehrenamtes ein, dann wird es anschaulicher. Die Ehrenämter des Mittelalters in Gilden und Bruderschaften, waren lange Zeit ein Privileg von Fürsten und Adelsherren. Später durfte dann auch die wohlhabende Bürgerschaft Ehrenämter bekleiden. Frauen waren von den bürgerlichen Ehrenämtern (z. B. Schöffen, Laienrichter, Kirchenvorsteher, Armenpfleger) ausgeschlossen. Sie wurden erst so ab 1896 sehr zögernd zugelassen, und auch nur zu bestimmten Ämtern. Solche sozialen Arbeiten allerdings wie die Pflege und Versorgung der verwundeten Krieger wurden auch schon lange vorher von Frauen übernommen.

Auch das Kochen und Verteilen der Armensuppe übernahmen wohlhabende Frauen, ebenso die unmittelbare barmherzige Arbeit in den Hospizen der Klöster und Gemeinden, in denen Kranke, Sterbende, Alte, Obdachlose und Behinderte aufgenommen und versorgt wurden. Ihre Tätigkeit wurde erst später als ehrenamtlich’ bezeichnet. Die Trennung zwischen männlichen ’Ehrenamts-Beamten“’ und ’freiwilliger‘, unmittelbarer sozialer Wohlfahrtspflege, die hauptsächlich durch Frauen geleistet wurde, zieht sich durch die ganze Geschichte hindurch, und sie gilt im Grunde bis heute.

Bismarcks Gesetze

Die Zeit zwischen den Befreiungskriegen 1813 und dem Beginn des Ersten Weltkriegs 1914 ist gekennzeichnet durch eine massive industrielle Entwicklung und einen enormen Anstieg der materiellen, physischen und psychischen Not der großstädtischen Arbeiterbevölkerung. Die Bismarck’sche Sozialgesetzgebung reagierte darauf, aus Angst vor Aufständen. Sie brachte 1883 die Krankenversicherung, 1884 die Unfallversicherung, 1891 die Rentenversicherung, mit Rentenanspruch ab dem 71. Lebensjahr. Und erst 1927 wurde die Arbeitslosenversicherung eingerichtet.

Gegen Ende des 19. Jahrhunderts wurden immer mehr wohltätige bürgerliche Frauen in die freiwillige, unbezahlte soziale Arbeit zur Versorgung Hilfsbedürftiger eingebunden. Ein wichtiges Motiv zur Aufnahme unbezahlter sozialer Arbeit war damals der Ausschluss bürgerlicher Frauen von der Erwerbsarbeit, während für viele proletarische Frauen die Teilnahme an der Erwerbsarbeit, und zwar in einem zwölfstündigen Arbeitstag, gang und gäbe war.

Durch ihre ’freiwillige‘ Hilfe sollten die bürgerlichen Frauen aber nicht nur das aus den Klassengegensätzen entstandene Elend lindern, sie sollten auch dazu beigetragen, die drohende soziale Revolution der verarmten und ausgebeuteten Arbeiterschaft abzuwenden. Es ist natürlich immer auch ein Stück Kontrolle und Erziehung in dieser Arbeit. Sozialarbeit richtet ja immer auch die Betroffenen dafür her, für dieses System zu funktionieren. Erst in den 60er und 70er Jahren des 20. Jahrhunderts gab es in der Sozialarbeit eine Bewegung, die gesagt hat: Wir wollen die Betroffenen stark machen im Kampf gegen dieses System! Jedenfalls die sozialistischen Frauen und Arbeiter konnten die bürgerliche Fürsorge nicht leiden, sie bauten ihre eigenen Arbeiter-Selbsthilfe-Organisationen auf – von Arbeitern für Arbeiter – wie 1888 den Arbeiter-Samariter-Bund.

Wichtig ist noch, dass sich während des Ersten Weltkrieges die bürgerlichen Frauenvereine zusammengetan haben, um die Vaterländischen Hilfsdienste zu gründen; dabei haben auch Sozialistinnen mitgewirkt. Da waren natürlich Clara Zetkin und Rosa Luxemburg schwer dagegen! Durch die Vaterländischen Hilfsdienste sind damals viele Frauen reingekommen in die ehrenamtliche Arbeit.

Ende des 19. und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts entstanden dann die religiös und weltanschaulich gebundenen Wohlfahrtsverbände. Die unmittelbare soziale Arbeit wurde in allen Verbänden weiterhin ehrenamtlich und vor allem von Frauen geleistet. Auch bei der Arbeiterwohlfahrt, die 1919 von Maria Juchacz gegründet wurde. Sie war übrigens die einzige Frau im MSPD-Vorstand und hat 1919, als erste Frau in Deutschland, eine Rede im Parlament gehalten bzw. halten ’dürfen‘. Da war das Frauenwahlrecht grade mal etwa ein Jahr alt. Nach dem Ersten Weltkrieg wurde dann bald klar, dass das Ehrenamt nicht mehr reicht.

Ausbildungsstätten ’für soziale Wohlfahrt‘ entstanden, Sozialreformerinnen gründeten ’Soziale Frauenschulen‘, zugleich auch um den Frauen den Weg in die Erwerbsarbeit und zu den Universitäten zu ebnen, zunächst mal, um die Hilfe zu professionalisieren. Sie wurden zu einer Art ’Fürsorgerin‘ bzw. ’Wohlfahrtspflegerin‘ ausgebildet, und von den bürgerlichen Frauenvereinen wurde nun ganz offen die Umwandlung von ehrenamtlicher Sozialarbeit in Erwerbsarbeit gefordert.

Kaum Widerstand

Während der Weimarer Republik setzte sich die Überzeugung durch, dass soziale Arbeit ohne Berufskräfte nicht mehr zu bewerkstelligen ist. Eine daraus folgende Hierarchisierung und Entsolidarisierung zwischen bezahlten und unbezahlten Sozialarbeiterinnen hat sich jedoch als problematisch erwiesen, denn sie erlaubte einen Zugriff auf die jeweilige Gruppe, je nach Bedarf und Wirtschaftslage. Das zeigte sich dann erstmals in der Weltwirtschaftskrise. Staat und Wohlfahrtsverbände griffen zu Sparmaßnahmen und riefen zu umfangreicher ehrenamtlicher Hilfsbereitschaft auf. 1931 wurde im Rahmen der Notverordnungen der ’Freiwillige Arbeitsdienst‘ eingeführt.

Vom Faschismus wurde natürlich der staatliche Zugriff auf die unbezahlte soziale Arbeit übernommen und perfektioniert. Mit einer Massenaktivierung wurden Mitglieder für die einzelnen Organisationen rekrutiert, für HJ, BDM, NS-Frauenschaft bis hin zum Reichsarbeitsdienst. Die sozialistischen Frauenverbände wurden verboten, die bürgerlichen gleichgeschaltet, oder sie haben sich aufgelöst. Da war kaum Widerstand.

Gleichzeitig wurde mit gesetzlichen Regelungen gegen berufstätige Frauen als ’Doppelverdienerinnen‘ vorgegangen. Das hatte zur Folge, dass man vorher entlohnte soziale Arbeit nun wieder von ’freiwilligen‘, unbezahlten, ehrenamtlichen Kräften verrichten lassen konnte. Man muss leider sagen, dass neben bezahlten Kräften auch viele dieser ehrenamtlichen Sozialarbeiterinnen bei der ’Auslese‘ und ’Ausmerze‘ mitgeholfen haben. Das ist viel zu wenig bekannt.

Arbeiter-Samariter-Bund und Arbeiterwohlfahrt wurden 1933 verboten, und die übrigen Wohlfahrtsverbände hat man stark zurückgedrängt zugunsten der NS-Volkswohlfahrt. Sie übernahm nach und nach die Kontrolle über die gesamte freie Wohlfahrtspflege. 1938 hatte sie eine Million ehrenamtliche Mitarbeiter, zu Kriegsbeginn waren es elf Millionen. Die Arbeitslosenversicherung wurde 1939 übrigens abgeschafft. Die Unterstützung hing nun vom Nachweis der Bedürftigkeit der Erwerbsarbeitslosen ab.

Sie wurden der Kontrolle durch die Fürsorgeinstanzen unterstellt und zu Pflicht- und Notstandsarbeiten gezwungen oder zum Reichsarbeitsdienst. Der ganze Reichsarbeitsdienst war ja Zwangsarbeit. Und die Frauen haben dann während des Zweiten Weltkrieges wiederum die übliche Unterstützungsarbeit geleistet.“ (Darüber hinaus gab es u. a. 500.000 Wehrmachtshelferinnen, die Hälfte davon meldete sich freiwillig, und es gab die SS-Helferinnen, die u. a. auch in den Konzentrations- und Vernichtungslagern ihren Dienst verrichteten. Anm. G.G.)

„Und nach dem Krieg haben die Frauen ja alles wiederaufgebaut, die Häuser, die Parteien, die Verbände, haben die Witwen und Waisen versorgt, die Flüchtlinge untergebracht. Sie sind aber zurückgepfiffen worden, als die Männer dann mit ihren Verwundungen und verletzten Seelen wieder nach Hause gekommen sind und die Macht wieder übernommen haben. Und dann hat sich die Wirtschaft durch das ’Wirtschaftswunder‘ vorübergehend zum Wohlstand entfaltet. In den 50er Jahren ging das Engagement für ehrenamtliche soziale Arbeit zurück.

Viele Arbeiten sind damals noch bezahlt worden. Und die große Familienideologie wurde propagiert, mit der Hausfrau und Mutter als Leitbild. Es gab ja sieben Millionen mehr Frauen als Männer! Für Unverheiratete war bezahlte Arbeit überall verfügbar. Es gab natürlich weiterhin ehrenamtlich Arbeitende, bei den Wohlfahrtsverbänden war viel zu tun. Aber in den 60ern standen sie dann den politisierten, professionellen Sozialarbeitern im Wege. Professionalisierte Sozialarbeit wurde im Zuge des Ausbaus des sozialen Rechtsstaats und der damit verbundenen Durchsetzung von Rechtsansprüchen, etwa durch das Bundessozialhilfegesetz 1961 und den Ausbau der Sozial- und Jugendhilfe, sowie durch die Reform der Sozialarbeiterausbildung immer weiter vorangebracht. Bis zur nächsten Krise.

Etwas möchte ich hier nicht unerwähnt lassen: Es gab auch großartige Bestrebungen außerhalb der Verbände und staatlichen Institutionen, die etwas wirklich anderes wollten. Beispielsweise die Selbsthilfebewegung der 70er Jahre. Und auch was die Frauenbewegung dann unter Selbsthilfe verstanden hat, war etwas ganz anderes, ebenso bei den Bürgerinitiativen. Das war wirklich freiwillige, unbezahlte Arbeit, politische Arbeit. Aber das ist ein anderes Thema.

Zurück zur wirtschaftlichen Krise der 80er Jahre. Ihr folgten Kürzungen im Sozialbereich, und es begann die großflächige Reprivatisierung der sozialen Versorgung. Und natürlich gab es eine Renaissance der ehrenamtlichen sozialen Arbeit.

Und noch etwas anderes muss ich an dieser Stelle unbedingt klarstellen, nämlich zum Verständnis des Ehrenamtes: 80 Prozent der Ehrenamtlichen sind Frauen, auch wenn Studien – auch meine eigenen – belegen, dass mehr Männer als Frauen ehrenamtlich tätig sind. Es muss hier differenziert werden zwischen den jeweiligen Tätigkeiten. Ein großer Teil der Männer engagiert sich nebenberuflich in Vereinen – 47 Prozent ihres ehrenamtlichen Engagements findet in Sport- und anderen Vereinen statt. Dazu kommen die ’politischen Ehrenämter‘, im Vorstand der Wohlfahrtsverbände, als Aufsichtsräte, als Rundfunk- und Fernsehräte, in wissenschaftlichen und kirchlichen Gremien oder in Gewerkschaften. Viele der Männer sind freigestellt bei fortlaufenden Bezügen und erhalten oft auch noch eine ansehnliche Aufwandsentschädigung. Während Frauen eher unsichtbar und unbezahlt auf den unattraktiven Feldern, im sozialen Bereich arbeiten. Und das auch noch in vollkommen ungeschützten Verhältnissen, teilweise neben ihrem Beruf, neben der Hausarbeit, abhängig vom Verdienst des Ehemannes oder von Transferleistungen. Ohne ihre Arbeit aber würde das System der sozialen Dienste zusammenbrechen!

Abgewickelte Betriebe

Nach dem Zusammenbruch der DDR beschleunigte sich die Entwicklung durch die Arbeitslosigkeit nach der Abwicklung der Betriebe, besonders auch durch die hohe Frauenarbeitslosigkeit in den neuen Bundesländern. Mit der Einführung der ABM-Maßnahmen – und durch die freiwillige Fortführung der Arbeiten nach Ablauf der Maßnahmen – kamen plötzlich Erwerbslose in Felder, in denen bisher nur Ehrenamtliche gearbeitet haben. Bis zu den 90er Jahren war das Ehrenamt ein Phänomen der Mittelschicht. Dass Erwerbslose ein Ehrenamt machen, das ist erst seit der Wende so.

Und das hat sich dann noch mehr ausdifferenziert im Laufe der Zeit – in den alten und in den neuen Bundesländern –, insbesondere durch die systematische Aushöhlung der geschützten Arbeitsverhältnisse und des Arbeitslosenversicherungssystems. Durch die Einführung von Hartz IV im Jahr 2005, die ein rigoroseres Arbeitsmarktregime mit sich brachte. In vielen Bereichen der sozialen Arbeit gibt es zum einen die Arbeitsplätze der bezahlten Kräfte, die Halbtagskräfte, die Midi-Jobber. Dazwischen sind die unbezahlten Ehrenamtlichen. Und zum anderen kommen noch die Leute hinzu – die ja eigentlich keine Arbeitskraft ersetzen dürfen – in 1-Euro-Jobs und Minijobs, in Bürgerarbeit und seit vorigem Jahr im Bundesfreiwilligendienst.

Es gibt inzwischen vielfältige Arbeitsbedingungen und zahlreiche Namen für die ’bürgerschaftliche‘, die ’freiwillige‘ soziale Arbeit. Sie alle dienen aber nur dem einen Ziel: die soziale Versorgung – trotz massiver Kürzungen – sicherzustellen und besonders die Lücken im Bereich der Altenhilfe zu kitten. Eigentlich muss die Arbeit im Altenbereich regulär bezahlt werden. Mit Tarifvertrag und Mindestlohn. Aber das wollen weder der Staat noch die Unternehmen leisten. Ohne jede Not. Es ist ja nicht so, dass es nicht da ist, das Geld!“ Gisela Notz schenkt Tee nach und holt eine Broschüre, die sie uns mitgeben will.

(Zur besseren Übersicht fasse ich kurz zusammen: MINIJOB, für Hartz-IV-Empfänger, 400 Euro monatl., keine Sozialversicherung. 1-EURO-JOB, für Hartz IV- Empfänger, 30 Wochenstunden gemeinnützige Arbeit, für 1,50 Euro Std., zusätzlich zum Regelsatz. Bestandteil des Hartz-IV-Konzeptes, „Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt“. Bei Ablehnung Sanktionen. BÜRGERARBEIT, von Frau von der Leyen 2010 eingeführt, wird als ideales Gegenmittel zum Schrumpfen der Erwerbsarbeit ausgegeben, besonders geeignet für Hartz-IV-Empfänger, arbeitslose Jugendliche, Frauen, Rentner. 900 Euro brutto, 30 Wochenstunden, für drei Jahre. Bei Ablehnung Sanktionen, BUNDESFREIWILLIGENDIENST, seit 1. Juli 2011 als Nachfolge des Zivildienstes, in sozialen und kulturellen Bereichen, für alle offen, auch für Hartz-IV-Empfänger. Mindestzeit sechs Monate, es gibt ein Taschengeld. Anm. G.G.)

Falsche Freiwilligkeit

„Es war auch die Rede davon“, sagt Frau Notz, „ob man ein ’Pflichtjahr‘ einführt. Aber das Grundgesetz steht dem entgegen, und wir müssen wirklich alles tun, dass es nicht geändert wird! Die Bürgerarbeit ist schon schlimm genug. Sie wurde verkauft als ’sinnstiftende‘ Tätigkeit. Arbeitslose Frauen, hieß es, ’müssen nicht mehr zurück an den Herd‘, sondern ’Vorwärts in die Bürgerarbeit!‘. So der Soziologe Ulrich Beck, Erfinder der Bürgerarbeit. ’Noch gebraucht zu werden‘ baue die ’erwerbslose Beiköchin der Dresdner Tafel‘ auf. Anfangs war noch die Rede von ’freiwilliger Arbeit‘. Aber Freiwilligkeit, die gibt es im Sozialgesetzbuch II gar nicht! Inzwischen ist die Aufnahme von Bürgerarbeit für Hartz-IV-Empfänger Pflicht.

Das Ziel ist: Vier von fünf Erwerbslosen sollen mindestens in Bürgerarbeit gebracht werden. ’Keine Sozialleistung ohne Arbeitsleistung‘ ist das Motto. Es geht um die flächendeckende Einführung einer 30-Stunden-Woche zum Sozialhilfesatz. Auf die Idee muss man erst mal kommen! Es gibt einen Bruttolohn von 900 Euro für 30 Wochenstunden, was deutlich unter dem Mindest- bzw. Tariflohn liegt. 500 Euro kommen aus dem Etat der Bundesagentur. 400 Euro aus dem Europäischen Sozialfonds. Und fertig ist der Niedrigstlohn mit 720 Euro, rechnet man die selbst zu zahlende Sozialversicherung ab. Eine Arbeitslosenversicherung ist natürlich nicht vorgesehen.

Die Bürgerarbeiter werden aus der Arbeitslosenstatistik gestrichen – die Statistik ist ja das A und O. Die sind weg! Der Bürgerarbeiter zählt nicht mehr als Erwerbsloser, er ist Arbeitnehmer per definitionem, steht aber weiterhin unter strenger Kuratel des Jobcenters, dem er regelmäßig nachweisen muss, dass er sich um Arbeit auf dem Ersten Arbeitsmarkt bemüht; andernfalls sind Sanktionen vorgesehen.

Das wird von sehr vielen Betroffenen als demütigende Zwangsarbeit empfunden. In unserem Grundgesetz steht, zur Arbeit gezwungen darf nur werden, wer eine Freiheitsstrafe zu verbüßen hat. Die Bürgerarbeit aber wird erzwungen. Wer sie verweigert, verliert seinen Anspruch auf Grundsicherung und alle staatlichen Leistungen. Das bedeutet eine Abkehr vom Sozialstaatsgebot unseres Grundgesetzes! Der sozialstaatliche Auftrag ist in Art. 20 und 28 des Grundgesetzes festgeschrieben.

Mithin sind auch die Bürgerarbeit und die Sanktionen gegen Hartz-IV-Empfänger verfassungswidrig. Wir – also ein Bündnis verschiedener gesellschaftlicher Gruppen – haben 2009, noch vor der Einführung der Bürgerarbeit, einen Bündnisaufruf für ein Sanktionsmoratorium gemacht. Es gab eine große Beteiligung, aber das hat leider nicht viel gebracht. Meine Meinung ist: Sämtliche Sanktionen gegen Erwerbslose gehören abgeschafft!

Am liebsten würde man die Gratisarbeit von möglichst vielen Ehrenamtlichen abschöpfen. Aber nicht nur die der Schulabgänger, Arbeitslosen und Hausfrauen. Man hofft auch auf die fitten Alten, die Lese-Omas usw. Da habe ich mich gestern mit frauenbewegten Frauen fast ’geprügelt‘. Ungefähr die Hälfte der Frauen hier im Beginenhof war mal Lehrerin, und ungefähr die Hälfte dieser Lehrerinnen liest in der Schule vor. Sehr nett. Ist doch toll, dass sie das machen! Wenn sie es nicht machen würden, würde es niemand machen. Damit wäre auch keinem geholfen. Nur: Es wird nicht darüber nachgedacht, dass man damit jemandem im Prinzip die Arbeit wegnimmt. Früher war diese Arbeit nämlich bezahlt, es gab auch bezahlte Nachhilfen usw. Und offenbar fragen sie auch viel zu wenig, wie das zustande kommt, dass so viele Kinder derartig viele Defizite haben. Das machen sie offenbar alles nicht.

Arme bleiben arm

Auch in Bezug auf die Suppenküchen und Berliner Tafeln habe ich das gesagt. Die Ehrenamtlichen sind nicht gewillt, sich darüber Gedanken zu machen, wie das alles wohl kommt. Die Antwort gibt’s bei Brecht: ’Und der Arme sagte bleich: Wär ich nicht arm, wärst du nicht reich.‘ Sie brauchen die Armen, damit sie sich toll fühlen, noch was Nützliches tun können in ihrem Leben. Sie reichen den Armen die Armensuppe, die Spenden von abgelaufenen Lebensmitteln und fühlen sich gut. Es ist wie zu Beginn der Industrialisierung. Das Schlimme daran ist: Die Armen bleiben arm, und das Prinzip der Wohlhabenden wird gefördert. Die Armen bleiben die Bittsteller. Man kann ihnen sogar den Suppenhahn zudrehen.

Ich habe nichts gegen das Ehrenamt, habe selber jahrelang nebenberuflich ehrenamtlich gearbeitet. Gesellschaftlich nützliche, politische Arbeit zu machen, die Spaß macht, das ist erstrebenswert. Aber so ist es ja nicht. Und diese Rede: Ehrenamtliche brauchen kein Geld, das ist Quatsch! Sie brauchen zuerst mal eine eigenständige Existenzsicherung. Erst wenn die eigene Existenz gesichert ist und auch die Betreuten gut grundversorgt sind – und zwar durch professionelle Kräfte –, erst dann kann Ehrenamt funktionieren.

Stattdessen sieht es so aus, als würden immer mehr ’Ehrenämter‘ geschaffen. Als wäre ein Ende des Sozialabbaus und der Reprivatisierung der wirtschaftlichen Folgen all der Krisen noch lange nicht in Sicht. Das ist sicher noch nicht ausgereizt. Man kann unmöglich voraussagen, was noch alles kommt, was denen noch alles einfällt. Und es sind ja nicht nur das Altenheim und der Bereich Kindererziehung, in denen Ehrenamtliche unverzichtbar sind, es kommen immer neue Einsatzbereiche dazu. Ich hätte nicht gedacht, dass das mal so ausgeweitet wird. Im Kulturbereich geht es ja auch schon fast so zu wie im Sozialbereich. Die Museen, Theater, Opern, Büchereien könnten zumachen, wenn die Ehrenamtlichen sich da nicht engagieren würden.“

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