Kranke Kinder in Hamburger Unterkünften: „Das pure Chaos“

Mediziner kritisieren Versorgung und Ernährung von Flüchtlingen in Hamburger Unterkünften. „Kollaps der Grundversorgung“ stehe bevor.

Kinder warten auf einem Gang

Leben wegen der Hamburger Kost oft vitaminarm: Flüchtlingskinder Foto: dpa

HAMBURG taz | „Alles im Griff“ lautet die Botschaft. Wenn es um die Krankenversorgung von Flüchtlingen geht, klopft Hamburgs Gesundheitsenatorin Cornelia Prüfer-Storcks (SPD) sich gern auf die Schulter. Ihr Sprecher, Rico Schmidt, betont: „Hamburg ist bei der medizinischen Versorgung ganz weit vorne“, und die Tageszeitung Die Welt titelte noch kurz vor Weihnachten: „Gesundheitssystem: Hamburg in der Flüchtlingsversorgung vorbildlich.“

Das sehen viele beteiligte Ärzte anders. Der Berliner Notfallmediziner Paul Brandenburg kümmerte sich zwischen Juli und Oktober in fünf Hamburger Erstaufnahmelagern um die Gesundheit der Flüchtlinge und erlebte „das pure Chaos“, wie er sagt. „Die Gesundheitsversorgung wurde völlig am Bedarf vorbeigeplant, wir Ärzte hatten keine klaren Ansprechpartner und die hygienischen Verhältnisse waren teilweise eine Katastrophe.“

Besonders betroffen sind von dieser Situation die Kinder. „Sie haben am meisten unter den Fluchtstrapazen gelitten, kommen ausgezehrt, mangelhaft ernährt und mit schwachem Immunsystem in den Lagern an und finden hier keine Ruhe und keine ausreichende medizinische Betreuung“, sagt Bandenburg. „Einige Erstaufnahmen haben noch nie einen Kinderarzt gesehen.“

In anderen Einrichtungen, die bisweilen einige tausend Flüchtlinge beherbergen, gibt es immerhin ein oder zwei kurze Kinderarzt-Visiten pro Woche. Weil es aber keine kontinuierliche Ärzteversorgung gibt, sei es während seiner Hamburger Zeit zu „regelrechten Schlachten um die Ausgabe von Fiebersaft für Kinder gekommen“, berichtet der Mediziner.

„Wir machen uns große Sorgen um die Gesundheit vieler Flüchtlingskinder in Hamburger Erstaufnahmeeinrichtungen“, sagt auch Nadja Frenz von der Initiative „Kinderprogramm Erstaufnahmen“. Viele der durch die Flucht schon arg angeschlagenen Kinder werden krank – nicht ohne Mitschuld der Träger der Aufnahmeeinrichtungen.

So beklagt die Initiative eine staatlich verordnete „Mangelernährung bei Flüchtlingskindern“ in vielen Erstaufnahmeeinrichtungen. Die führe zu „akutem Eisenmangel, Magen-Darm-Erkrankungen“ und den unterschiedlichsten Entzündungen.

Längst nicht in allen, aber in vielen der 32 Hamburger Erstaufnahmeeinrichtungen fehle es „an Obst und frischem Gemüse, an Fruchtsäften, warmer Milch und spezieller Kinder- und Babynahrung“, sagt Frenz. Die Initiative versucht jetzt mit Spendenaufrufen Geld für Obst und kindgerechte Multivitaminpräparate für möglichst viele Einrichtungen zu sammeln.

Zudem gibt es in den Erstaufnahmeeinrichtungen nur drei Mahlzeiten am Tag – kleine Kinder aber bräuchten, so der Barmbecker Kinderarzt Cornelius Heinz, „fünf Mahlzeiten am Tag.“ Da es verboten sei, Nahrungsmittel mit in die Zelte oder Container zu nehmen, litten manche Kinder Hunger, berichten ehrenamtliche Helfer aus den Unterkünften.

„Für Flüchtlinge gilt ein Sondergesetz, das sie von der normalen gesundheitlichen Versorgung ausgrenzt“, betont Hamburgasyl, die Arbeitsgemeinschaft für kirchliche Flüchtlingsarbeit in Hamburg. Der Behandlungsumfang sei nach dem Asylbewerberleistungsgesetz eingeschränkt auf „akute Behandlungen und Schmerzzustände“. „Die Kliniken bekommen nur Notfälle bezahlt und Flüchtlinge sind als Patienten nicht besonders lukrativ“, sagt Mediziner Brandenburg. „Darum hatten wir regelmäßig Probleme, Patienten Krankenhäusern zuzuweisen.“

„Es ist wahnsinnig frustrierend, wie einem die Hände gebunden sind, wenn der gesundheitliche Zustand einiger Kinder sehr kritisch ist, aber noch keinen absoluten Notfall darstellt“, sagt Liesa Castro. Die Assistenzärztin am Universitätsklinikum Eppendorf (UKE) kümmert sich seit Monaten um Flüchtlinge.

Stundenlange Telefonate mit dem Sozialamt, den Krankenkassen, Bitten und Betteln seien an der Tagesordnung. „Hat man es mit viel Zeit und Mühe geschafft, die Kleinen gesund zu bekommen, geht das ganze Spiel nach der Rückkehr in die Erstaufnahmeeinrichtungen von vorne los“, sagt Castro.

Oft werden den Flüchtlingen medizinisch notwendige Leistungen nicht bewilligt, sodass Ärzte auf ihr Honorar verzichten müssten. „Zwei Zahnärzte haben uns bestätigt, dass ihnen bei zahnärztlichen Eingriffen die Narkose nicht bezahlt wird“, sagt Nadja Frenz. So trügen die Mediziner die Kosten entweder aus eigener Tasche oder verzichteten auf die Betäubung.

„Der Gesundheit der Kinder wird immer noch viel zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt“, sagt Liesa Castro. Und Paul Brandenburg schmiss Anfang Oktober sogar hin, weil er „die Situation nicht mehr verantworten“ konnte“, wie er sagt. „Irgendwann kommt der Punkt, an dem man sich mitschuldig macht“, sagt der Arzt heute.

„Wir haben alle zuständigen Stellen über die Probleme informiert und sogar den Bürgermeister angeschrieben“, berichtet Brandenburg. In ihrem Brandbrief warnten mehrere in den Flüchtlingsunterkünften eingesetzte Ärzte und ein Apotheker vor dem „völligen Kollaps der medizinischen Grundversorgung innerhalb der Erstaufnahmen“.

Immerhin, so Brandenburg, „gelobte die Gesundheitssenatorin daraufhin Besserung“. Passiert sei seitdem de facto „aber fast nichts“.

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