Krieg in der Ukraine: Ukraine startet Offensive im Süden

Die ukrainische Armee spricht von „Offensivaktionen an vielen Fronten“ im Süden des Landes. Russische Truppen nahe Cherson sollen auf der Flucht sein.

Ein Feuerwehrmann in voller Montur nimmt einen tiefen Schluck aus einer Trinkflasche, hinter ihm ein schwelendes Gebäude

Auftanken: Ukrainischer Feuerwehrmann nach einem russischen Angriff auf Sloviansk Foto: Leo Correa/ap

BERLIN taz | Die Ukraine hat am Montag nach eigenen Angaben ihre langangekündigte Großoffensive zur Rückeroberung der russisch besetzten Gebiete im Süden des Landes gestartet. Ukrainische Streitkräfte hätten im Gebiet Cherson „die erste russische Verteidigungslinie durchbrochen“, meldete am Montagmittag der ukrainische Generalstab.

Das 109. Regiment der russisch beherrschten „Volksrepublik Donezk“ habe sich zurückziehen müssen und die russischen Fallschirmjäger dort seien geflohen, hieß es weiter. Veröffentlicht wurde ein Video, das diesen Rückzug bestätigen soll. Der genaue Ort des angeblichen Vorstoßes wurde nicht mitgeteilt. Unabhängige Beobachter nannten einen Frontbereich am Inhulets-Fluss nordöstlich der Stadt Cherson.

„Die Streitkräfte der Ukraine haben Offensivaktionen an vielen Fronten im Süden der Ukraine gestartet“, zitierten ukrainische Medien die Sprecherin des ukrainischen Südkommandos, Nataliya Humenyuk. Am Abend wurde die Befreiung von vier Dörfern gemeldet und weiterer andauernder Beschuss. Russland beschoss die ukrainische Frontstadt Mykolajiw mit Raketen, wobei mehrere Menschen ums Leben kamen.

US-Militärquellen bestätigten „vorbereitende Operationen“ der ukrainischen Armee für einen Großangriff. Den Berichten zufolge ist auch die ukrainische Luftwaffe über dem besetzten Gebiet im Einsatz.

Die russischen Besatzungsbehörden bestätigten „massiven ukrainischen Beschuss“ und ordneten eine Evakuierung des Ortes Nova Kakhovka am Dniepr-Fluss an. Dort befindet sich ein Wasserkraftwerk, das am Montag zum wiederholten Mal von der Ukraine bombardiert wurde und dessen Damm auch einen Kanal versorgt, der Wasser aus dem Dniepr Richtung Krim leitet. Nach der russischen Annexion der Krim 2014 hatte die Ukraine diesen Kanal gesperrt; er wurde erst dieses Jahr nach der russischen Besetzung wieder geöffnet.

Russland in die Defensive gezwungen

Im Juni hatte die ukrainische Armee erstmals angefangen, mit kleineren Angriffen an verschiedenen Stellen im Gebiet Cherson russische Truppen zurückzudrängen. Rund 60 Dörfer sollen innerhalb von zwei Monaten zurückerobert worden sein. Zugleich hatte die Ukraine mit den aus den USA gelieferten Himars-Mehrfachraketenwerfern gezielt russische militärische Infrastruktur sowie die Brücken über den Dniepr-Fluss beschossen und zerstört.

Seit einigen Wochen ist es nicht mehr möglich, schweres Gerät über diesen Fluss zu bringen – das erschwert sowohl den Nachschub aus der Krim als auch einen russischen Rückzug an das Südufer des Flusses.

Die russischen Offensivaktionen an allen Fronten in der Ukraine waren in der vergangenen Woche weitgehend zum Erliegen gekommen. Stattdessen waren verstärkte russische Defensivbemühungen zu verzeichnen.

Dass ukrainische Angriffe in den vergangenen Wochen auch militärische Ziele auf der von Russland annektierten Krim trafen, hatte am Wochenende einem Gerücht Nahrung gegeben, das eine abrupte Eskalation in den Bereich des Möglichen rücken lässt: Russland soll „taktische Atomwaffen“ auf der Krim stationieren oder dies vorbereiten. Dies soll der britische Geheimdienst am vergangenen Freitag dem ukrainischen Generalstab mitgeteilt haben.

„Taktische Atomwaffen“ sind solche mit angeblich geringem Wirkungsbereich, der sich auf feindliche militärische Kräfte beschränken lässt und keine großflächigen Zerstörungen oder radioaktiven Verseuchungen anrichtet. Im russischen Militär schließt dies auch kleinere Atomsprengköpfe auf Mittelstreckenraketen ein. Bislang waren keine Stationierungen des russischen Atomwaffenarsenals auf der Krim bekannt.

Mit einer solchen Stationierung, so sie denn real ist, würde Russland die Ukraine von weiteren Angriffen auf die Krim abhalten wollen: Der Beschuss russischer Militäreinrichtungen wäre deutlich riskanter, wenn dabei auch Atomwaffen getroffen werden könnten. Der Militärexperte René Duba schreibt auf Twitter: „Sobald Russland behaupten kann, dass die Ukraine seine ‚nukleare Infrastruktur‘ angreift, kann dies als Vorwand für einen atomaren Gegenschlag dienen.“

Eine weitere Entwicklung auf russischer Seite, die über Gerüchte hinausgeht, betrifft Truppenverstärkungen. Ein neu ausgehobenes „Drittes Armeekorps“ der russischen Streitkräfte schickt Freiwilligenverbände mit neuer Ausrüstung an heikle Frontbereiche in der Südukraine. Militärexperten gehen von rund 15.000 Soldaten mit neuen Fliegerabwehrsystemen aus.

Während der US-Militärexperte Tom Bullock anhand der Ausstattung dieser Freiwilligenbataillone mit modernstem Gerät, das anderen russischen Einheiten nicht zur Verfügung steht, von verstärkten Offensivkapazitäten ausging, mutmaßte sein Kollege Michael Kofman hingegen, dass die neuen Truppen eher defensiv eingesetzt werden sollten.

Einig sind sich alle Beobachter darüber, dass das neue Dekret des russischen Präsidenten Wladimir Putin von vergangener Woche zur Vergrößerung der russischen Armee auf einen langen Krieg zielt. Es sollen mehr Wehrpflichtige eingezogen werden, die nach Ende ihres Wehrdienstes als Berufssoldaten auf Freiwilligenbasis in die Ukraine geschickt werden können.

Entsprechend ist auch die pessimistische Äußerung von Bundesaußenministerin Annalena Baerbock (Grüne) am Wochenende zu verstehen. Sie sagte: „Wir müssen leider davon ausgehen, dass die Ukraine auch im nächsten Sommer noch neue schwere Waffen von ihren Freunden braucht“.

IAEA-Team unterwegs zum AKW Saporischschja

Die neuen Kampfhandlungen am Montag setzen zu einer Zeit ein, da sich ein Untersuchungsteam der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEA) auf den Weg zum ukrainischen Atomkraftwerk Saporischschja im Kriegsgebiet macht. Das AKW liegt zwar im russisch besetzten Gebiet im Süden der Ukraine, aber nicht im Bereich der neuen Offensive.

„Ich bin stolz darauf, diese Mission zu leiten, die im Laufe dieser Woche im Kernkraftwerk sein wird“, twitterte IAEA-Chef Rafael Grossi am Montag mit einem Foto des 14-köpfigen Teams vor dem Abflug aus Wien. Der Tag sei gekommen, die Unterstützungs- und Hilfsmission nach Saporischschja sei nun auf dem Weg. „Wir müssen die Sicherheit der größten Nuklearanlage der Ukraine und Europas schützen.“

Einzelheiten zum Zeitplan und zur Route der Mission wurden zunächst nicht veröffentlicht. Offen ist auch die Frage möglicher Sicherheitsgarantien: Das AKW wird regelmäßig beschossen, wofür Russland und die Ukraine sich gegenseitig verantwortlich machen, und unter Beschuss wäre eine IAEA-Inspektion faktisch unmöglich.

Russlands Regierung lehnte am Montag erneut eine Entmilitarisierung des Geländes ab und behauptete, zwischen zwei Reaktorblöcken sei eine ukrainische Rakete eingeschlagen. Veröffentlicht wurden Fotos von einem Loch in einem Dach mit einem Reaktorblock im Hintergrund.

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