Kunst und Architektur in Chicago: Durchstarten am Michigansee

Chicago ist eine sich wandelnde Stadt und will eine neue Identität in der Stadtgesellschaft. Die Doppeleröffnung von Expo und Biennale ist ein Zeichen dafür.

Blick über ein Café am Wasser, im Hintergrund Hochhäuser

Die Skyline von Chicago Foto: Ronald Berg

„Windy City“ lautet der Spitzname von Chicago. Der Titel kommt nicht nur von der frischen Brise durch die Lage der Stadt am Michigansee. Windige Geschäfte sind genauso gemeint. Tricks, Halbseidenes und Hintergründiges sind also auch im Schwange, wenn es darum geht, die Mentalität der Chicagoer zu beschreiben. Wobei nicht genau ausgemacht ist, ob Windy City ein Ehrentitel oder doch eher abschätzig gemeint ist. Wahrscheinlich kommt es immer darauf an, welche Geschäfte man gerade betreibt.

Zur Eröffnung der sechsten Ausgabe der Kunstmesse Expo Chicago am 13. September musste man sich allerdings schon wundern, dass in einem Land, in der alles und jeder am Dollar gemessen wird, zunächst seltsame Ruhe herrschte. In der VIP-Preview am Nachmittag – auf vergleichbaren Messen für zeitgenössische Kunst sonst die Zeit, wo Sammler auf Schnäppchenjagd gehen und Galerienbesitzer aufgeregt ihre Klientel erwarten – passierte fast nichts.

Ruhe und freundliche Gelassenheit bei den Galerien in ihren Kojen. Die Hallen am weit in den Michigansee hinausragenden Navy Pier waren zu diesem Zeitpunkt nahezu noch ohne Publikum. Erst am Abend füllte sich der Ort – und zwar drastisch. Von den 40.000 Besuchern bis zum Ende der Messe am 17. September kamen allein 8.500 zum Eröffnungstag. Sind also die Verkäufe für die Galerien gar nicht so wichtig und der gesellschaftliche Event das eigentlich Charakteristische für diese Messe?

Fast scheint es so, dass es in Chicago wieder einmal um „windige Geschäfte“ geht. Ob die Global Players unter den 135 Galerien aus 25 Ländern – etwa Zwirner, Gagosian oder König – gar Sonderkonditionen bekamen, damit sie der Expo Chicago mehr Flair und Anziehungskraft verleihen, darüber spricht natürlich keiner.

Bessere Lebensqualität

Fakt ist aber, dass die Chicagoer Kunstmesse als wichtiges Instrument für Stadtentwicklung und Stadtmarketing erkannt worden ist. Niemand anderes hat besser dafür gesorgt als Expo-Chef Tony Karman. Der seit 30 Jahren in Chicagoer Business, Stadtpolitik und ‑kultur beheimatete Manager sorgte kraft seiner Überredungskünste nicht nur für die Teilnahme so mancher Galerie an der Kunstmesse, sondern Karman scheint auch die derzeit verantwortlichen Politiker der Stadt von den katalytischen Qualitäten einer international bedeutsamen Messe für zeitgenössische Kunst überzeugt zu haben.

Rahm Emanuel, Bürgermeister von Chicago, bekennt inzwischen: „Kunst verbessert die Lebensqualität für die Einwohner und Besucher von Chicago gleichermaßen.“ In der Tat: Chicago ist gerade dabei, sich als Kulturstadt neu zu erfinden. Und die Expo ist nur eines der Zeichen dafür, wie Kunst und Kultur heutzutage als wichtiger Standortfaktor funktionieren.

Chicago, lange Zeit die „Second City“, also zweitgrößte Stadt in den USA hinter New York, ist inzwischen von Los Angeles verdrängt worden. In der Region von Chicago leben heute knapp 10 Millionen Menschen. Die Zeit, da Chicago wegen seiner günstigen Lage als zentraler Eisenbahnknotenpunkt und mit seinen Schiffsverbindungen über die Großen Seen zum Atlantik und via Kanal zum Mississippi punkten konnte, sind vorbei. In globalisierten Zeiten und im Zeitalter der Internetwirtschaft zählen andere Qualitäten, von denen Firmen und Führungspersonal ihre Standortwahl abhängig machen.

Freizeitangebote, Nachtleben und Kultur sind das, was bei den hippen Gutverdienern aus der Kreativ‑ und Internetbranche zählt. Und da kann Chicago vieles bieten. Die Museen, Parks, Theater und Clubs mit Livemusik sind kaum zu zählen. Kultur hat Tradition in Chicago. Das galt lange Zeit auch für die bildende Kunst. Obgleich Chicago immer noch Dutzende von renommierten international agierenden Galerien hat, war der Kunstmarkt in der Stadt aber seit Jahrzehnten ziemlich eingeschlafen.

Die Zukunft gehört den Start-ups

Das passt zu der Tatsache, dass Chicago beim Übergang in die Postmoderne irgendwie Schwierigkeiten gehabt hat, den Anschluss zu kriegen. Im Stadtbild ist das abzulesen: Chicago ist eine Stadt der Moderne. Hier wurde 1884 der erste Skyscraper erfunden. Der Stahlskelettbau machte es möglich. Der Bautypus wurde das Markenzeichen des urbanen American Way of Life. Mit Bauhaus-Emigrant Ludwig Mies van der Rohe kultivierte Chicago den Skyscraper zum Ausdruck eines Lifestyles modernistischer Perfektion. Mies’ Skyscraper und die seiner Schüler (die sich formal vom Stil des Lehrers kaum unterscheiden) prägen immer noch die Skyline von Chicago.

Chicago Architecture Biennial 2017, bis 7. Januar

Doch die Moderne ist vorbei, und die Skyscraper, in denen das alte Big Business ein vollklimatisiertes Zuhause fand, sind im Grunde nicht zukunftstauglich, weil ökologisch unsinnig. Die Zukunft gehört den Start-ups und Internetfirmen, die sich im Westen der Stadt jenseits der Wolkenkratzer Downtown angesiedelt haben. Und zwar in alten Lager‑ und Geschäftsräumen aus Backstein.

Heute präsentieren sich in der Gegend nicht nur allerlei angesagte Restaurants oder der Firmensitz von Google, sondern eben auch die angesagten Galerien und diejenigen der Alteingesessenen, die nicht im Schickimicki der North Side zurückbleiben wollten. Bisher spielte sich das Geschäft mit der (zeitgenössischen) Kunst in Chicago nämlich inmitten von Edelboutiquen, Nobelapartments und Antiquitätengeschäften ab.

Erneut Geschichte machen

Für das neue Chicago, das junge Chicago, das sich in postindustriellen Zeiten neu erfindet, sind die vielerorts neu angelegten Fahrradstreifen auf den Straßen der Stadt genauso ein Zeichen wie die Novitäten einer Expo oder der Chicago Architecture Biennial, deren zweite Ausgabe zeitgleich mit der Expo eröffnete. Die Biennale zeigt in ihrer zentralen Schau im neoklassizistischen Prachtbau des Chicago Cultural Center von 1887, welche Architekturpositionen derzeit weltweit von Relevanz sind. Insgesamt 140 Architekten und Künstler bietet die Biennale dazu auf.

Die Doppeleröffnung von Expo und Biennale ist ein Ausdruck für den festen Willen, dass man in Chicago mit einer neu konzertierten Art Week und ihren unzähligen Ausstellungen, Events, Symposien und Get-togethers ein Zeichen setzen will. Da ist der offizielle Titel der Architecture Biennial „Make New History“ so etwas wie eine Selbstanfeuerung für das, was für die Stadt jetzt ansteht.

Chicago will durchstarten, besinnt sich auf alte kulturelle Stärken und gewinnt daraus eine Strategie für die Zukunft, in der eine Art Konversation quer durch die Stadt über Kulturereignisse eine neue Identität innerhalb der Stadtgesellschaft hervorbringen soll. Auch eine Messe wie die Expo Chicago wird in Zukunft davon profitieren, dass es bei einem solchen Ereignis (vorerst) nicht allein ums Geldverdienen geht, sondern dass sich erst wieder überhaupt ein Publikum und eine Kundschaft bilden müssen, wie es sie in Chicago bis in die 1970er Jahre gab. Kunst, in praktischer Hinsicht scheinbar überflüssig, war ja schon immer Ausweis für die Kultiviertheit einer Gesellschaft und ihren Erfolg – nicht nur im monetären Sinne.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.