Leben ohne Privatsphäre: Blogger erprobt digitale Nacktheit

Der Berliner Christian Heller lebt ein Leben der völligen Transparenz. Ein Besuch bei dem Philosophen der „Post-Privacy“-Bewegung.

Christian Heller sitzt mit Laptop in seiner Wohnung in Berlin. Bild: dpa

BERLIN dpa | Die Angst, ein gläserner Bürger zu sein, hat Christian Heller überwunden. Der Berliner steht gerne splitternackt da, zumindest was seine Daten angeht. „Big Brother is watching you“, steht auf einem Poster in seiner Einzimmerwohnung in Friedrichshain. Tatsächlich hat Heller kein Problem mit Dauerbeobachtung. Der 28-Jährige stellt seine Daten für alle sichtbar ins Internet. Großer Lauschangriff, PRISM, NSA-Affäre? Heller geht in die Offensive, indem er seine digitalen Hosen freiwillig herunterlässt.

Seine Veröffentlichungen reichen vom Terminkalender über den Stand persönlicher Finanzen bis hin zu Auskünften über sein Sexualleben. „Post-Privacy-Experiment“ nennt Heller sein Projekt. Seit mehreren Jahren protokolliert er akribisch seinen kompletten Tagesablauf und veröffentlicht alles auf seiner Webseite www.plomlompom.de als „PlomWiki“. „Daran habe ich eine große Freude“, sagt Heller. „Meine Philosophie ist, dass Daten umso nützlicher sind, je öffentlicher sie sind.“

15.55 Uhr: „Döner verzehren, danach Schoko-Pudding“, 18.40 Uhr: „LSD-Trip-Notizen feinzurren, publizieren“: Viele Einträge in Hellers „Wiki-Gehirn“ sind Banalitäten. Der Berliner glaubt auch nicht wirklich, dass sehr viele Menschen seine Einträge läsen. Auf Zugriffsstatistiken für seine Webseite schaue er nicht, meint er.

Sein Experiment ist grundsätzlicher Natur. Spätestens seit der NSA-Affäre ahnen die Bürger, dass ihre Privatsphäre, ihr Recht auf informationelle Selbstbestimmung möglicherweise schon lange eine Illusion ist. Staatliche Überwachung scheint in großem Stil Praxis zu sein. Aber die Menschen tragen auch selbst zu ihrer Gläsernheit bei: In sozialen Medien breiten viele mit Begeisterung ihr Privat- und Intimleben aus.

Privatsphäre als Auslaufmodell

Christian Heller gehört einer Bewegung an, die diesen gesellschaftlichen Zustand als „Post-Privacy“ bezeichnet. Sie fragt, ob man sich im digitalen Zeitalter weiter für eine Privatsphäre einsetzen sollte oder – angesichts der Unmengen von Daten im Internet und des technischen Fortschritts – den Datenschutz nicht einfach aufgeben sollte. „Post-Privacy. Prima leben ohne Privatsphäre“ heißt ein recht erfolgreiches Buch von Heller, das sich mit der Theorie der Privatsphäre als Auslaufmodell beschäftigt. Auch Vorträge hält der Blogger und schreibt Fachartikel über das „digitale Menschenbild“.

Der Bundesdatenschutzbeauftragte Peter Schaar findet Hellers Thesen „naiv und gefährlich“. Unterdrückungspotenziale würden heruntergespielt, die mit der alltäglichen Überwachung einhergingen. „Pressemeldungen über Überwachungsstaaten lassen nur erahnen, in welchem Ausmaß Datenströme kontrolliert, zensiert und manipuliert werden können“, schreibt Schaar in einer Rezension über Hellers Buch.

„'Machen wir das Beste daraus' heißt für mich nicht, derlei Entwicklungen achselzuckend hinzunehmen.“ Vielmehr müsse der Weg in die demokratische Informationsgesellschaft gestaltet werden, mahnt Schaar. „Dieser Anspruch umfasst rechtliche wie technologische Gestaltungsprinzipien, um die Rechte der Netzbürger – darunter das Recht auf Privatsphäre und auf informationelle Selbstbestimmung – auch im 21. Jahrhundert zu gewährleisten.“

Transparenz als Kontrollinstanz

Auch Verfechter von Transparenz sehen die Post-Privacy-Idee kritisch. Während Informationen des Staates – etwa über öffentliche Aufträge oder Ausgaben – transparent seien sollten, müssten private Daten geschützt werden, meinen sie.

Für Heller leistet die Post-Privacy-Debatten einen Beitrag zu den Bemühungen, das Zusammenleben der Zukunft zu gestalten. Transparenz könne auch nützen, staatliche Macht zu kontrollieren, meint der Blogger. Außerdem müsse die Gesellschaft toleranter werden: Denn mit der bevorstehenden „massenhaften Entblößung von Eigenschaften“ werde bald manches Tabu, manches Geheimnis des Nachbarn ans Tageslicht kommen. „Eine Privatsphäre wird nicht mehr existieren“, sagt Heller mit erstaunlicher Gleichgültigkeit. Anderen wird dieses Zukunftsszenario wohl eher Angst machen.

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