Liste der vergessenen Konflikte: Wo niemand hinschaut

Der Norwegische Flüchtlingsrat hat humanitäre Krisen aufgelistet, die in der Öffentlichkeit wenig beachtet werden. Es sind mehrere Dutzend.

Ein Mann zündet eine Rauchbombe, um Drohnen abzuwehren

Donetsk, Ukraine: Der Krieg in dem Land hält bereits seit fünf Jahren an Foto: ap

BERLIN taz | Kirchliche Hilfswerke hatten vor einiger Zeit eine Kampagne geschaltet. „Die größte Katastrophe ist das Vergessen“, stand auf den Plakatwänden. Gemeint war: Wenn die internationale Gemeinschaft sich abwendet, wird das Elend in Krisenregionen absolut.

Die Plakate hängen nicht mehr, das Problem ist noch da. Die so genannten „vergessenen Konflikte“ sind in den letzten Jahren ein immer wichtigeres Thema geworden. Am Dienstag hat der Norwegische Flüchtlingsrat NRC seine neue Liste dieser besonders vernachlässigten Konflikte vorgelegt. Demnach gab es im vergangen Jahr 36 humanitäre Krisen auf der Welt, die zur akuten Vertreibung oder Flucht von mindestens 200.000 Menschen geführt haben.

Die internationale Gemeinschaft sei „am Steuer eingeschlafen“, wenn es um die Bewältigung von Notsituationen wie beispielsweise jener in Kamerun geht, sagte Jan Egeland, der Generalsekretär des NRC. Der Konflikt in dem zentralafrikanischen Land steht auf Platz eins der NRC-Liste der vernachlässigten Krisen.

„Brutale Morde, niedergebrannte Dörfer und Hunderttausende Vertriebene – und die Reaktion ist ohrenbetäubendes Schweigen“, sagt Egeland. Die „Kultur der Lähmung durch die internationale Gemeinschaft“ müsse ein Ende haben.

Auch Medien schauen oft nicht hin

Der Konflikt in Kamerun habe eine halbe Million Menschen entwurzelt. Hunderte von Dörfern seien in Brand gesteckt, Krankenhäuser angegriffen worden. Es gebe kaum Vermittlungsbemühungen und keine nennenswerten Nothilfeprogramme, so das NRC. Jeden Tag kann der Konflikt ungehindert weitergehen, die Verbitterung nimmt zu und die Region nähert sich einem offenen Krieg“, so Egeland, der das zentralafrikanische Land kürzlich besucht hat.

Nach Einschätzung des NRC werden die Konflikte in folgenden Staaten weltweit in dieser Reihenfolge am sträflichsten vernachlässigt: Kamerun, DR Kongo, Zentralafrikanische Republik, Burundi, Ukraine, Venezuela, Mali, Libyen, Äthiopien, Palästina.

Die Kritik des NRC richtet sich auch an die Medien. Diese würden bestimmte Konflikte, etwa jenen in Kamerun, weitgehend ignorieren, trotz enormen menschlichen Leids. Eine Folge sei „zu wenig Druck auf die Konfliktparteien“, etwa Angriffe auf die Zivilbevölkerung einzustellen.

Grundlage für die Bewertung der mangelhaften öffentlichen Aufmerksamkeit ist der Meltwater Media Monitor, eine Auswertung von internationalen Medien der privaten Beraterfirma Meltwater. Das NRC hat die Reichweite der von Meltwater registrierten Berichte über humanitäre Krisen ins Verhältnis zur Zahl der betroffenen Menschen gesetzt.

Es ist ein stark konstruierter Indikator, der gleichwohl einen Eindruck davon vermittelt, wo die Medien hinschauen und wo nicht. Demnach gab es beispielsweise rund eine halbe Million potenzieller LeserInnen je Konfliktopfer in Libyen – aber nur rund 10.000 LeserInnen je Opfer im Kongo.

Das mitnichten eine Zahlenspielerei. Denn die Medienaufmerksamkeit korreliert – nicht immer, aber oft – auch mit den Geldern, die private und staatliche Geber bereitstellen. Und die sind lebenswichtig für Kriegsopfer und Vertriebene.

81 Cent pro Mensch

Als Maß für die Vernachlässigung zieht das NRC deshalb auch heran, wie weit der Finanzierungsbedarf der Hilfsorganisationen erfüllt wird. Dieser Wert lag im vergangenen Jahr beispielsweise in der Ukraine bei nur 37 Prozent, in Kamerun sind es 44 Prozent.

Die Zahl allein macht nicht klar, welches Elend sich dahinter verbirgt. Denn die Bedarfe sind ohnehin schon am unteren Minimum dessen kalkuliert, was Menschen zum Überleben benötigen. So muss das UNHCR etwa in Mali derzeit insgesamt rund 200.000 Menschen versorgen.

Zwei

Auch nach der EU-Wahl ist unklar, wie sich Europas Asylpolitik entwickelt. Auf dem Mittelmeer spielen sich derweil täglich neue Dramen ab. Zum Weltflüchtlingstag am 20. Juni berichtet die taz ab dem 3. bis zum 24. Juni schwerpunktmäßig in Berichten, Reportagen, Interviews und Livestreams zu den globalen Flüchtlingszahlen, Protesten und Rettungen auf dem Mittelmeer, der Lage an den EU-Außengrenzen sowie zu den Asyl-Plänen von Innenminister Horst Seehofer. Die gesamte Berichterstattung finden Sie auf taz.de/flucht

Dafür braucht die Hilfsorganisation in diesem Jahr nach eigenen Angaben etwa 59 Millionen US-Dollar. Das macht gerade einmal 81 Cent pro Mensch und Tag. Und davon haben private und öffentliche Geber, Stand 21. Mai, bislang für dieses Jahr nur ein gutes Drittel (37 Prozent) zugesagt. Deutschland, immerhin, hat allein etwa die Hälfte dieser Summe beigesteuert, die andere Hälfte kommt von der EU.

Medienberichte sind dabei freilich nur eine Seite der Medaille. In der Konkurrenz um die nicht ausreichenden humanitären Ressourcen spielen auch politische Erwägungen eine wichtige Rolle. Das kann beispielsweise das Interesse an Verhinderung so genannter Sekundärflucht in Richtung Europa sein.

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