Literatur und Verbrechen: Emilio Renzi fühlt sich fremd

Ricardo Piglias packender Roman „Munk“ handelt vom Mord an einer brillanten Wissenschaftlerin. Die Story entwickelt schnell eine Sogwirkung.

efeubewachsenes Gebäude mit Bäumen davor

Die Nassau Hall der Uni Princeton, Vorbild für die Uni im Buch. Foto: Inabluemn/wikimedia (CC0)

Der argentinische Schriftsteller Ricardo Piglia lehrte bis zu seiner Pensionierung 2010 Literatur an der renommierten US-amerikanischen Universität Princeton. 2011 kehrte er dauerhaft nach Buenos Aires zurück und schrieb „El camino de Ida“.

Dieser Roman, der unter dem Titel „Munk“ nun in deutscher Übersetzung vorliegt, geht mit deutlich autobiografischen Zügen dem rätselhaften Tod einer außergewöhnlichen Literaturprofessorin an einer Elite-Universität in der Nähe New Yorks nach.

In einer akuten Lebenskrise nimmt Emilio Renzi – Alter Ego des Autors in all seinen Büchern – die Einladung der Professorin Ida Brown dankbar an, als Gastdozent an der Taylor University ein Seminar über den argentinisch-britischen Schriftsteller und Naturbeobachter William Henry Hudson zu geben.

Renzi kommt als lateinamerikanischer Literaturwissenschaftler nach New Jersey – nicht als Exilierter oder illegaler Migrant. In dieser Situation nimmt er sein Umfeld mit Distanz, aber auch einer Mischung aus sprachlicher Verwirrung und Verlorenheit intensiv wahr und versucht es anhand ihm bekannter Koordinaten zu interpretieren.

Hundshai im Aquarium

An der Universität ist er schnell integriert. Don D’Amato, ausgewiesener Melville-Spezialist und Dekan der Universität, lädt ihn auf einen Brandy und eine Liefer-Pizza nach Hause ein, um über Hudson und Melville zu diskutieren. „Ich weiß, dass mir die nordamerikanischen Scholars, sobald ich auf meinen südamerikanischen Lieblingsschriftsteller [Anm. d. A.: Domingo F. Sarmiento] zu sprechen komme, jedes Mal mit höflichem Desinteresse begegnen, als würde ich ihnen von einer Art patriotischer Version von Salgari oder von Büchern im Stil von Onkel Toms Hütte erzählen.“ Am Ende des Abends führt D’Amato Renzi filmreif hinab in den Keller seines Hauses und überrascht ihn dort mit einem riesigen Aquarium, in dem vor der Außenwelt verborgen ein weißer Hundshai durchs Wasser gleitet.

„In diesem Land ist alles individualisiert, hier gibt es keine sozialen Konflikte oder gewerkschaftliche Auseinandersetzung“

Aus Renzis Perspektive erzählt, entwickelt der Roman rasch eine Sogwirkung. Ida Brown, die brillante und attraktive Wissenschaftlerin, beginnt eine heimliche Motel-Affäre mit dem Argentinier. Kurze Zeit später wird sie unter ungeklärten Umständen tot in ihrem Auto aufgefunden. Der friedliche Campus wird zum Tatort. Emilio Renzi beginnt zu ermitteln – unterstützt von einem Privatdetektiv und observiert vom FBI.

Besonders hilfreich sind ihm dabei seine eigenen Erfahrungen: „Ich komme aus Argentinien. Ich weiß, wie das läuft. Die eine Bevölkerungshälfte wird überwacht, die andere arbeitet für den Geheimdienst.“ Doch eine kriminalistische Lösung des Falls wird es am Ende nicht geben. Piglia bedient sich dieses amerikanischen Genres vor allem, um eine Geschichte mit ungewissem Ausgang zu erzählen. Gleichzeitig bietet das akademische Setting dieses „Krimis“ dem Autor alle Möglichkeiten zu einem komprimierten Wechselspiel zwischen biografischer Erfahrung und einem Leben mit Literatur.

Aus dem argentinischen Spanisch von Carsten Regling. Wagenbach Verlag, Berlin 2015, 256 Seiten, gebunden, 22,90 Euro.

Piglia zählt zur ersten Schriftstellergeneration Argentiniens, die Frankreich als kulturelle Referenz der Intellektuellen aufgab und sich stattdessen für die Literatur der Beat Generation, das Kino und den Jazz der USA begeisterte. In einem Interview mit der spanischen Tageszeitung El País schildert der Schriftsteller aber auch, wie seine langjährigen Beobachtungen des Alltags der USA als Fragmente in den Roman eingeflossen seien. So gebe es ein Bedürfnis der Gesellschaft, Gewalt stets zu individualisieren und somit zu psychopathologisieren.

Keine Salonlinke

So wundert sich der Erzähler über einen einzelnen Demonstranten: „In diesem Land ist alles individualisiert, dachte ich, hier gibt es keine sozialen Konflikte oder gewerkschaftliche Auseinandersetzung. (…) Deshalb steigen so viele, die ungerecht behandelt worden sind, mit einer automatischen Schusswaffe und einer Handgranate auf das Gebäude ihres früheren Arbeitgebers und knallen jeden ab, der zufällig vorbeikommt. Den USA könnte ein bisschen Peronismus nicht schaden, dachte ich schmunzelnd, auf diese Weise würde sich die Zahl der von rebellierenden Individuen verübten Massenmorde deutlich verringern.“

Ida Brown war keine akademische Salonlinke. Sie erinnert ihn an die Frauen, die er in den siebziger Jahren in Argentinien gekannt hatte und die mit der Guerilla sympathisierten. Nach ihrem Tod findet Renzi Austausch und Anteilnahme bei seiner Nachbarin Nina Andropowa, einer älteren russischen Intellektuellen.

Die emeritierte Tolstoi-Biografin war Stalins Terror entkommen und musste nach dem Krieg in Frankreich fassungslos die Rechtfertigungen sowjetischer Verbrechen durch Sartre und die französische Linke erleben, bevor sie 1950 in die USA emigrierte. „,Es war damals schwer, links zu sein und das ist es immer noch‘, sagte Nina. ‚Aber ich bin Russin, mein Lieber, und ich könnte niemals Reformist sein …‘“. Mit diesem zweiten Teil fügt Piglia dem Roman ein weiteres historisches Fragment aus der widersprüchlichen Geschichte der Linken hinzu.

Weiter unter besonderer Beobachtung des FBI, verfolgt Renzi bald hartnäckig die Spur eines Briefbombenattentäters. Dessen Anschläge scheinen sich ausschließlich gegen Universitätsprofessoren und Wissenschaftler zu richten. Den entscheidenden Hinweis aber, der ihn schließlich zu Thomas Munk führen soll, findet er ausgerechnet in Idas Seminaraufzeichnungen über den Schriftsteller Joseph Conrad. Posthum gibt sie damit den entscheidenden Hinweis zu dessen Identität.

Ein radikaler Don Quijote

Denn Conrads Fiktion lieferte dem Täter die Vorlage zu seinen Verbrechen. Renzi erkennt in Munks Begeisterung für den Autor einen radikalen Don Quijote, „der erst völlig gebannt Romane verschlingt und dann loszieht, um sie nachzuerleben“. Doch hinter Piglias fiktiven Figur des Attentäters entdeckt man leicht und seltsam ernüchtert 1:1 die reale Person Theodore Kaczynski, des sogenannten Unabombers.

Der hochbegabte Harvardabsolvent und Mathematikprofessor hatte zwanzig Jahre lang zurückgezogen in den Wäldern gelebt, bevor er inspiriert von Conrads Roman „Der Geheimagent“ zum einzelgängerischen Terroristen wurde. Piglia übernimmt diese Realität in seinem Roman, „weil diese Dinge sehr schwer zu erfinden sind.“

Nach dieser Episode verändert sich das Erzähltempo und Renzi rekapituliert nun gelassen die Ereignisse. Auf seiner Reise an die Westküste der Vereinigten Staaten beobachtet der Argentinier seine Umgebung mit der ihm eigenen Distanz – vielleicht nun etwas weniger verloren.

Im Gefängnis von Sacramento will er Munk unbedingt über dessen Verbindung zu Ida befragen. Dazu sagt der Autor selbst in einem Interview: „Mir gefällt es, wenn es im Roman eine Reise gibt und alle Rätsel der Geschichte in eine Unterhaltung münden, in der sich nichts aufklärt.“ Am Ende landet Piglias Alter Ego auf dem Flughafen Ezeiza in Buenos Aires. Und so ist „Munk“ tatsächlich auch ein Roman über die Rückkehr eines meisterhaften Erzählers nach Argentinien.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.