Löhne im Umbruch: Definitionsversuche der Demokratie

Demokratie ist ein abstrakter Begriff. Wie man ihn konkretisieren kann, wurde in Löhne, Ostwestfalen, diskutiert.

Was aus dem Bahnhof in Löhne werden soll, ist noch unklar Bild: Tim Wagner

von VOLKAN AĞAR

Einst tummelten sich Reichsbürger in Löhne, heute steht die Stadt für zivilgesellschaftliches Engagement. Beim Besuch von taz.meinland diskutieren die Löhner über Vergreisung in der Politik und die Rolle von Zivilgesellschaft – und fragen sich, wie man den abstrakten Begriff der Demokratie mit Leben füllen kann.

Schon auf den kurvenreichen Landstraßen Ostwestfalens war klar: Hier zeigt sich das bevölkerungsreichste Bundesland der Republik, Nordrhein-Westfalen, von einer besonderen Seite. Vorbei an goldgelben Rapsfeldern und verschlafenen Bauernhöfen war das Ziel am hundertjährigen Bahnhof von Löhne erreicht. Eine ehemalige Wartehalle bot Raum – „den schönsten bisher“, wie Moderator Jan Feddersen den Gekommenen versicherte – für eine Debatte über die Frage: „Weiß die Demokratie, was ich will?“.

„Allee des Grundgesetzes“ statt Reichsbürger

Volker Hegemann, Lehrer von Beruf, machte taz.meinland auf das zivilgesellschaftliche Engagement in Löhne aufmerksam. Dieses ist nicht von ungefähr. „Gemeinsam für Vielfalt“ – ein Bündnis, dem auch Hegemann zugehört – gründete sich vor fünf Jahren, um gegen Reichsbürger vorzugehen, die sich damals in Löhne organisierten.

Es sei kein Zufall, dass deren Mitglieder gerade in Löhne ein Büro eröffneten und sogenannte „offene Rechtsberatungen“ anboten. Schließlich seien die Reichsbürger gut vernetzt mit Schlüsselpersonen aus der rechtsextremen Szene und Kameradschaften in Westfalen, erzählt Hegemann.

Sein Bündnis schaffte es damals, über 350 Menschen für eine Demonstration zu mobilisieren – für Löhne eine beachtliche Zahl. Die Bürogebäude der Reichsbürger, die „Botschaft Germanitien“, sei später von Behörden geschlossen worden – unter anderem wegen Steuerhinterziehung.

Für ihr Engagement gegen die Reichsbürger belohnte das „Bündnis für Demokratie und Toleranz“ die Löhner mit einem Preis. Weil „Gemeinsam für Vielfalt“ diesen den Bürger*innen widmen wollte, entstand die Idee der „Allee des Grundgesetztes“. In jener Allee pflanzte das Bündnis im Herbst 2016 einen Apfelbaum für jeden Artikel des Grundgesetzes.

Prozess noch nicht abgeschlossen

Später, im Januar 2017 wurden die Patenbriefe übergeben, an Schulen und Religionsgemeinden, Vereine und auch eine Landtagsabgeordnete. „Das Interesse an weiteren Bäumen ist groß“, sagt Hegemann. Das sei gut, denn es zeige, dass Demokratie in Löhne als Prozess verstanden werde, und nicht als ein abgeschlossenes Projekt.

„Es waren auch Pfarrer, die gegen die jesidische Gemeinde Stimmung machten.“

Andererseits, zeigt sich der Lehrer kurz enttäuscht, habe man es nicht geschafft, alle Aktiven und Betroffenen in Löhne an den runden Tisch von taz.meinland zu bringen. Weder Geflüchtete, noch VertreterInnen der Moscheegemeinden sind heute da. Dabei habe Löhne in puncto interkultureller Dialog bereits große Schritte gemacht. Als Beispiel nennt er die gemeinsame Patenschaft evangelischer, katholischer und muslimischer Gemeinden für den Baum in der „Alle des Grundgesetzes“, der das Grundrecht der Religionsfreiheit symbolisiert.

Dass noch nicht alles perfekt läuft, findet auch ein Mann aus dem Publikum, der seinen Namen nicht nennen will: „Es waren auch Pfarrer, die gegen die jesidische Gemeinde Stimmung machten“, sagt er. Hintergrund: Für ein eigenes Kulturzentrum erwarben Vertreter der jesidischen Glaubensgemeinde 2015 das Wasserschloss Ulenburg von der Diakonischen Stiftung Wittekindshof. In Löhne waren damals viele überrascht über den Kauf, manche reagierten besonnen, andere jedoch mit Unmut. Hegemann bestätigt das, sieht die positiven Reaktionen jedoch in der Überzahl.

Abstraktum Demokratie

Zuvor, bei der Begrüßung der rund 50 Gäste, stelle Hegemann fest, dass „Demokratie“ auch ein abstrakter Begriff sei. Der Besuch von taz.meinland solle deshalb dazu dienen, diesen Begriff in und für Löhne zu konkretisieren. „Demokratie sollte nicht nur eine Staatsform, sondern eine Lebensform sein“ versucht dies Isabell Gottschling von den Falken, „eine Gegenwelterfahrung in einer Welt, die oft nicht antwortet und in der man sich stumpf fühlt“. Steven Link von den „Jungen Ratsmitgliedern“ fordert, man müsse Politik „wieder interessant“ machen und sie auf „Probleme der Leute vor Ort“ ausrichten, statt auf Beschlüsse im Bundestag zu beschränken.

Ramona Kämper, die sich bei „Löhne gegen Rechtsextremismus und Rechtspopulismus“ engagiert, findet dass die EU eigentlich „eine klasse Idee“ sei, „weil man heute nur auf dieser Ebene Dinge regeln“ könne, auch globale Unternehmen regulieren. Schade sei, dass die EU jetzt auseinander brösele, obwohl das Ziel eigentlich eine „Eine-Welt Regierung“ sein solle – weil man eigentlich immer weiter zusammenwächst.

Jugend gegen Verkrustung

Viele junge Menschen sitzen in der Wartehalle des Löhner Bahnhofs, darunter zahlreiche Mitglieder der „Jungen Ratsmitglieder“ (JURATS). Ihnen bereitet das hohe Durchschnittsalter in den kommunalen Gremien Bauchschmerzen. Deshalb wollen sie zu den Kommunalwahlen 2020 mit einer eigenen Liste antreten, um die verkrusteten Strukturen der Parteipolitik aufzuweichen, erzählt Link. Ein Mann aus dem Publikum, der sich als Unterstützer der JURATS vorstellt, findet, dass Parteien auf kommunaler Ebene entbehrlich seien, denn da gehe es um Bedürfnisse von Personen vor Ort, und nicht um Parteiprogramme: „Es gibt keinen christlich-sozialen Fahrradweg und auch keine sozialistische Bedarfsanstalt“.

„Wieso sollten junge Menschen überhaupt bessere Politik machen als ältere?“

Gertrud Robbes, die sich zunächst als Vertreterin der Arbeiterwohlfahrt vorstellte und auf die Kritik der jungen Erwachsenen hin ihr parteipolitisches Engagement für die SPD im Kreistag bekannt gibt, widerspricht: Es müsse zwar vieles bei den Parteien geändert werden, dennoch funktioniere Politik nicht ohne sie. „In einer Demokratie gibt es eben bestimmte Spielregeln“, findet sie. Dazu gehören auch Übereinkünfte zwischen Parteien, die notwendig seien.

Trotz Vorsätze der Konkretion, bleibt die Debatte in Löhne abstrakt. So einig sich die jungen Kritiker*innen der Parteipolitik in ihrer Gegnerschaft sind, so wenig können sie fassbare Wünsche, Probleme und Lösungsvorschläge für Löhne äußern. „Was wollt ihr eigentlich?“, fragt Moderator Feddersen deshalb immer wieder, und: „Wieso sollten junge Menschen überhaupt bessere Politik machen als ältere?“ Gottschling von den Falken antwortet mit einer Gegenfrage: „Wieso nicht?“ Ein junger Mann aus dem Publikum mit schwarzer Käppi und Brille, der sich als Nikita vorstellt, stimmt ihr zu: „Es kommt ja nicht immer auf Erfahrung an. Man kann sich ja steigern!“, sagt er.

Das Eine kann nicht ohne das Andere

Was folgt, sind versöhnliche Wortmeldungen: „Wieso ein ‚Entweder, oder’?“ fragt Martina Wessel aus dem Publikum. Es sei wichtiger darüber zu sprechen, was die Anwesenden im Löhner Bahnhof verbindet. „Sowohl, als auch“ statt „Entweder, oder“ ist auch das Fazit des nächsten Diskussionskomplexes: Zivilgesellschaftliches Engagement oder Parteipolitik? Das Eine könne schließlich nicht ohne das Andere, formulieren viele Anwesende jeweils in eigenen Worten und mit verschiedenen Beispielen.

Ein Herr, der zu den Ältesten im Wartesaal gehört, kauft diese harmonischen Feststellungen nicht ab. Er fordert die jungen Menschen auf, es einmal mit Basisdemokratie zu probieren – denn dann seien gute Kompromisse gewiss – wenn auch nach stundenlangen und anstrengenden Debatten.

Eine Kathedrale der Zivilgesellschaft

Alle sind sich einig: „Wir müssen weiterdiskutieren“. Wieso diesen Bahnhof dann nicht zu einer „Kathedrale der Zivilgesellschaft“ küren, fragt Moderator Feddersen deshalb. Tatsächlich ist dies der Plan der Initiative „Löhne umsteigen!“, die ihren Namen von Erich Maria Remarques Roman „Im Westen nichts Neues“ hat. Dort kommt der Imperativ als Aufruf an Rekruten des ersten Weltkrieges vor. Einst war der Löhner Bahnhof der größte Güter- und Verschiebebahnhof Ostwestfalens. Ab den 1960ern büßte er an logistischer Bedeutung ein.

Weil er zu schön ist, um vergessen zu werden, schloss sich Irene Esser, Besitzerin eines Bioladens, mit anderen zusammen und gründete die Initiative. „Löhne umsteigen!“ stehe auch für einen „Umstieg in ein ökologisch und sozial gerechtes Miteinander“, erzählt sie. Gerade sei das Gebäude noch in privater Hand, schon bald solle es in den Besitz einer Bürgergenossenschaft übergehen.

Ein Begegnungsort, nicht nur für politische Debatte, sondern auch für verschiedene Kulturen. Nächste Woche schon findet das interkulturelle Frühlingsfest mit syrischen Geflüchteten und den Jesid*innen vom Wasserschloss statt – pünktlich zum jesidischen Neujahrsfest Newroz.