Mayo Thompson und Scott Walker: Fiepen aus dem Kalten Krieg

Schlaue Musik: „Baby and Child Care“ von Mayo Thompsons Band The Red Krayola und „The Childhood of a Leader“ von Scott Walker.

ein Mann im Porträt

Mehr Licht: Mayo Thompson und sein konstruktiver Gesangsvortrag Foto: Chris Strong

Kindheit, sogenannte formative years, Prägungen, Freiheit, Individualität – die Konflikte, die in den noch stark von Disziplinarinstitutionen wie Schule, Fabrik, Militär geprägten 1950er Jahren um Konformismus und Freiheit entstanden, sind weitgehend vergessen und umgelabelt worden.

Solange das Übel in falschen Institutionen lokalisierbar war, konnte man über andere nachdenken und versuchen, den gesellschaftlichen Einfluss, den es weder auf der Straße noch in Wahlen zu gewinnen gab, über die Erziehung (oder eben gerade Nichterziehung) der nächsten Generation zu gewinnen.

Wenn auf Deutsch von Dr. Spock die Rede ist, kann man davon ausgehen, dass jemand dem Vulkanier vom Raumschiff „Enterprise“, von dessen Intellektualität beeindruckt, einen Titel verliehen hat, den er in der Serie gar nicht trägt.

Ratgeber Dr. Spock

In den USA war ein anderer Dr. Spock eine weithin berühmte Figur, und jeder wusste, dass sie nicht mit Mr. Spock verwandt oder verschwägert war. Dr. Benjamin Spock ist mit seinem Doktortitel bekannt, weil er seinen Ruhm ärztlicher Ratgeberliteratur verdankt. Nach 1945 rüttelte er das noch ganz autoritätsfixierte, patriarchale Amerika mit einer Reihe von populären Werken auf, die erstmals das kleine Kind als individuelle Person beschreiben. Nicht wie bis dahin üblich als ein von allgemeinen Entwicklungsstadien determiniertes präindividuelles Gattungswesen habe man sich sein Baby vorzustellen, sondern als von Anfang an mit einer Persönlichkeit ausgestattet.

Das verbiete, angemessenes Verhalten, den richtigen Zeitpunkt etwa des Spracherwerbs und anderer Fertigkeiten normativ festzulegen. Mit dem enormen Erfolg dieser einfühlsam geschriebenen Bücher konnte sich aber Dr. Spock eine zweite große Intervention leisten. Jahrelang war er eine der Leitfiguren der US-Linken in verschiedenen Stadien. Er beteiligte sich an der Bürgerrechtsbewegung und war in einer kurz vor dessen Tod geplanten Präsidentschaftskandidatur von Martin Luther King als Bewerber um die Vizepräsidentschaft vorgesehen.

Später nahm er diese Rolle ebenso wie die des Spitzenkandidaten dann tatsächlich ein und kandidierte für ein progressives Bündnis, dessen vordringliches Ziel die Beendigung des Vietnamkriegs war. Spock befürwortete und unterstützte auch Maßnahmen des zivilen Ungehorsams – alles mit dem Credit des Mannes, der uns geholfen hatte, unsere Babys richtig zu verstehen.

Wie sich Thompson und Walker mit dem glücklichen Dreijährigen beschäftigen, ist zugleich irre und faszinierend

„Die Kindheit eines Chefs“ erzählt gewissermaßen das Gegenteil: Ein großbürgerlicher, durchaus individuell erzogener Junge, der sexuell und kulturell verunsichert, gegenüber scheinbar transgressiven Experimenten offen ist, sich – um 1938 in Frankreich – auf Surrealisten und einen schwulen Dandy einlässt, landet schließlich im Konformismus einer antisemitischen rechtsradikalen Organisation und transformiert sich, auf die vermeintlichen Fixpunkte Nation und Ethnie zurückgeworfen, bis er schließlich in der Lage ist, das väterliche Unternehmen zu übernehmen: Er wird zu einem „Chef der Franzosen“ und lässt sich einen kleinen Schnurrbart wachsen.

Er entkommt seiner männlichen Unsicherheit nur, indem er selbst die Repression ausübt. Für Jean-Paul Sartre, dem wir diese Erzählung verdanken, bedeutete dies natürlich auch, dass die existenzialistische Wahl sich eben gerade nicht darin erschöpft, ein Klassenschicksal und die darin vorgesehenen Freiheitsdosen zu leben. Es kommt nicht darauf an, was man aus uns gemacht hat, sondern darauf, was wir aus dem machen, was man aus uns gemacht hat.

Zwei Diskurse der 1950er Jahre – Existenzialismus und revolutionäre Pädagogik – und zwei große US-Musiker, die sich ihrer auf verschlungene, gespiegelte Weise annehmen. Mayo Thompson veröffentlicht 2016 eine bereits 1984 eingespielte Auseinandersetzung mit Spock, Scott Walker steuert den Soundtrack für eine neue äußerst ambitionierte Verfilmung der Sartre-Erzählung bei.

Diese hat der junge Schauspieler Brady Corbet (auffälliger Nebendarsteller in „Die Wolken von Sils-Maria“ und „Melancholia“) gedreht und im Zentrum seiner Ambitionen stehen teure, edle Materialien: 35-mm-Film, schön rekonstruierte halbbeleuchtete Interieurs aus den 1930er Jahren und ein 120-köpfiges Orchester, für das er Scott komponieren ließ.

Kulturelles Material als strahlende Präparate

Zwei brillante Gelegenheiten also, vermeintlich erledigtes kulturelles Material als kleine strahlende Präparate anzuschauen, die heutige Diskurse verwirren könnten: wenn diese oft die Formation faschistischer Subjekte nur über deren Abgekoppeltheit zu rekonstruieren versuchen oder wenn es allenthalben wieder heißt, dass Kinder vor allem „Führung“ brauchen.

1984 sehen wir Thompson und seine Red Krayola zum letzten Mal für lange Zeit, nämlich bis 2007, mit der ruhmreichen konzeptkünstlerischen Organisation Art & Language zusammenarbeiten. Bisher hatten diese Zusammenarbeiten (an den Alben „Corrected Slogans“, 1976, „Kangaroo?“, 1981, und „Black Snakes“, 1983) eng mit den künstlerischen Projekten der zuletzt meist als Duo tätigen Gruppe zu tun.

Arbeiteten die beiden etwa an einer Serie von Gemälden, deren Titel Helden und Szenen der Sowjetunion bebilderten, stets mit dem Zusatz „… in the style of Jackson Pollock“ (so dass man im Effekt natürlich nur ein Pollock-Bild sah, in das man einen Lenin „hineinsehen“ musste), dann gab es auf dem dazugehörigen Red-Krayola-Album einen zweiteiligen Song, der die Mythen Jackson Pollock und Lenin für Kunstwelt und Linke analytisch nachzeichnete – durch seine Form als State-of-the-art New-Wave-Funk-Song mit einem komisch-sarkastischen Effekt.

Bei diesem Projekt von Mayo Thompson scheint es sich um eines zu handeln, das, aus unbekannten Gründen unveröffentlicht, gar kein zweites Bein im Universum der bildenden Kunst gehabt hat. Art & Language haben per Paraphrase von Spock-Zitaten die Texte generiert. Musikalisch stellt „Baby and Child Care“ die letzte Zusammenarbeit zwischen Mayo Thompson und Allen Ravenstine dar, den genialen Störgeräusche-Experten von Pere Ubu, der mit Thompson bei Red Krayola weitermachte, bis er zurück in seinen alten Beruf ging: Pilot von Verkehrsmaschinen.

Unfehlbarer Gegensatz

Die eigentlich unsingbaren theoretischen Texte von Art & Language werden durch Thompsons unglaublich konstruktiven, melodisch vielfältigen Gesangsvortrag stabilisiert. Durch ihre Überblendung mit dem dekonstruktiven Ravenstine-Fiepen, das immer so klingt, als würde er gerade live das Universum nach Alien-Sounds absuchen, bildet sich ein spritziger unfehlbarer Gegensatz. Dazu kommt der charmant angemuffte, anachronistische Funk-Bass von Ben Annesley, der in den frühen Achtzigern in britischen Rough-Trade-Kreisen in Mode war und ein seltsames Saxofon, dessen Urheber ich nicht kenne, vermutlich war es auch Ravenstine (Lora Logic, die das früher bei Red Krayola erledigte, eher nicht.).

Wie fest darf die Stimme der Eltern klingen (fest ja, aber nie schreien), was macht die Besonderheiten von Dreijährigen aus und wie unterstützt man den Idealismus sehr kleiner Kinder? Ich erinnere mich, dass Mayo, der kurze Zeit später eine Weile mein Nachbar werden sollte, damals gerne den Begriff der „Monstrosität“ als ästhetischen Wert verwendete; meiner Erinnerung nach meinte der die Kombination von in sich dichten, massiven, tendenziell geschlossenen, kulturell beladenen Komplexen (Jackson Pollock) mit anderen, vorderhand nicht dazu passenden (Geschichte der Sowjetunion) und gerne noch einen weiteren (zeitgemäßer, flott-verführerischer Pop-Song-cum-Modefunk und Space-Fiepen).

In dieser Hinsicht ist die Auseinandersetzung mit Spock ein weiterer Dreh dieser Schraube. Später entstanden andere Kollaborationen, mit anderen bildenden Künstlern (Albert Oehlen, Stephen Prina) und zahllosen Musikern (David Grubbs, Mike Hurley), seit einiger Zeit auch bildende Kunst. Im November eröffnet eine Personale von Mayo Thompson in der Berliner Galerie Buchholz.

ein Mann mit Basecap

Mehr Dunkelheit: Scott Walker und seine orchestrale Klangwelt Foto: David Evans

Vom Osten fasziniert

Dem westlichen, von analytischer Philosophie unterfütterte Marxismus von Art & Language steht der, dem Sartre’schen Existenzialismus nicht so ferne, von Osteuropa und seiner Totalitarismusgeschichte faszinierte Pessimismus von Scott Walker gegenüber. Auf seinen experimentellen Solo-Alben mit Avantgarde-Adel wie SunnO))) ist auch, aber weniger stark als in seinen bisherigen Filmmusiken erkennbar gewesen, dass Walker die osteuropäische Moderne mag wie kein Zweiter. Osteuropäische Diktatoren und Parteiführer waren ja auch schon mehrfach Themen seiner Songs.

Die „Childhood of a Leader“, die einen Weg von der Freiheit zum Konformismus nachzeichnet, klingt so wie eine mit weniger musikalischen als mit vor allem Sound-Ehrgeiz neu gefasste Version von Lutoslawski – in Deutschland vor allem durch den Missbrauch seines „Konzerts für Orchester“ als Titelmusik des „ZDF-Magazins“ mit seinem besonders galligen und reaktionären Antikommunismus bekannt.

Komponisten wie Schnittke und Lutoslawski, auch Penderecki bieten Walker als Vorbilder die Gelegenheit, seine Film-Symphonik vor traditionellen Backgrounds zu entwickeln, ohne an Hollywood denken zu müssen. Auch Hollywood selbst hat ja in letzter Zeit erkannt, dass dies der einzige Weg ist, orchestrale Filmmusik noch mal ins Rennen zu bringen – und als Überwältigungsstrategie, die mit Darkness und Pessimismus arbeitet, ist das gar nicht so falsch. Noch ein Tick irrer, überdrehter und faszinierender sind die damals schon gestandenen Musiker und Künstler, die sich mit dem glücklichen selbstverwirklichten Dreijährigen beschäftigen.

The Red Krayola with Art&Language: "Baby and Child Care" (Dragcity/Rough Trade)

Scott Walker: "The Childhood of a Leader" (4AD/Beggars/Indigo)

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