Menschenrechtskritik an Japans Justiz: „Geiseljustiz“ auf dem Prüfstand

Menschenrechtsorganisationen kritisieren „Geiseljustiz“ in Japan. Der Fall des Automanagers Carlos Ghosn könnte zum Wendepunkt werden.

Carlos Ghosn wurde aus der Untersuchungshaft entlassen

Menschenrechtskritik an japanischer Justiz wegen Automanager Ghosn Foto: Yukie Nishizawa/Yukie Nishizawa

TOKIO taz | Mit der Entlassung auf Kaution des Automanagers Carlos Ghosn am 6. März nach über hunderttägiger Haft hat in Japan eine Debatte über diese sogenannte „Geiseljustiz“ eingesetzt. Mit dem Wort beschreiben Kritiker von Japans Justizwesens die Strategie der Strafverfolger, Verdächtige wie eine Geisel in Untersuchungshaft zu behalten, um ein Geständnis zu erpressen. Ohne dieses „Lösegeld“ ist eine Haftentlassung auf Kaution bis zum Prozess kaum möglich.

Den Extremfall lieferte der Finanzberater Nobumasa Yokoo mit 966 Hafttagen. Er bestreitet bis heute den Vorwurf, er habe die Bilanzen des Optikkonzerns Olympus manipuliert. Der Abgeordnete Muneo Suzuki saß unter der Anklage der Bestechlichkeit 437 Tage in Untersuchungshaft. Wie bei Ghosn wurde dies damit begründet, dass die Beschuldigten fliehen, Beweise manipulieren und Zeugen einschüchtern könnten.

Die Justiz reagiert auch auf die Erwartung der Gesellschaft, dass sie vor Kriminellen geschützt wird. Viele Japaner halten das Bekennen eines Fehlverhaltens für eine soziale Pflicht. Doch die Berichte über die Haftumstände von Ghosn haben vielen die Augen geöffnet.

Die Habeas-Corpus-Rechte bei einer Festnahme sind in Japan zur Unkenntlichkeit verzerrt. Erst nach drei Tagen gibt es eine Haftprüfung, aber ohne den Grundsatz „in dubio pro reo“. Der Haftrichter geht davon aus, dass die Strafverfolger wissen, was sie tun. Die Untersuchungshaft dauert bis zu 20 Tage, erst dann muss die Anklage stehen. Bei keinem Verhör ist ein Anwalt zugegen. Gesteht der Beschuldigte immer noch nicht, wird er oft wegen eines ähnlichen Vorwurfs erneut verhaftet und wieder 23 Tage befragt und so weiter.

Anhörung im Parlament

Doch jetzt hat sich der Wind gedreht. „Die Freilassung von Ghosn könnte das System der Geiseljustiz beenden“, meinte Hiroshi Kadono, pensionierter Richter am obersten Gericht von Tokio. Das Justizministerium sei zu strikt und unangefochten, darin liege ein „riesiges“ Problem, erklärte Takeshi Niinami, als Chef des Getränkeriesen Suntory der mächtigste Familienunternehmer Japans. Mitte März fand im Parlament die erste Anhörung von Experten zur Geiseljustiz statt. „Der Fall Ghosn wird zum Wendepunkt, weil die Verletzungen der Menschenrechte im Ausland bekannt wurden“, sagte dabei der Ex-Staatsanwalt Nobuo Gohara.

Aus Karrieregründen erheben Staatsanwälte in Japan nur Anklage, wenn sie den Prozess sicher gewinnen. „Einen Prozess beginnen sie nur, wenn sie von der Schuld überzeugt sind“, erläuterte Rechtsanwalt Hiroyuki Kamano. Dafür soll die Polizei ihnen ein Geständnis liefern. Deswegen enden 99,97 Prozent der Prozesse mit einer Verurteilung. 86 Prozent der Täter hatten gestanden. Daher könnte jeder zehnte Verurteilte unschuldig sein. Immerhin sitzen in Japan nur 45 von 100.000 Einwohnern hinter Gittern, in Deutschland sind es 77.

In Japan enden 99,97 Prozent der Prozesse mit Verurteilung, 86 Prozent mit einem Geständnis

Der Fall Ghosn liegt jedoch anders. Normalerweise sammelt die Polizei Beweise und verhört Verdächtige. Aber Ghosn wurde am 19. November von einer Sondereinheit der Staatsanwaltschaft festgenommen, die gegen Beamte, Manager und Politiker vorgeht. Sie greift bei gesellschaftlich bedeutenden Straftaten ein und spricht sich oft mit politischen Stellen ab.

Bei Ghosn ging es wohl darum, die Verschmelzung von Nissan und Renault zu verhindern. Als Hebel diente das hohe Einkommen des Automanagers, das gesellschaftlich unerwünscht ist. Die Staatsanwälte dieser Einheit sind selbst für die Beweisaufnahme zuständig und stehen unter hohem Erfolgsdruck. „Gewinnen sie, sind sie Helden, aber wehe, sie verlieren“, sagte Ex-Staatsanwalt Gohara.

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