Migration: „Wir Produkte des Kolonialismus“

Die Silent University Hamburg macht das Wissen von Menschen auf der Flucht zugänglich. Die vom Senat bezahlte Stadtkuratorin hat das internationale Kunstprojekt mit politischer Dimension an die Elbe geholt

Hat weder Bleiberecht noch Arbeitserlaubnis, aber was zu sagen: Abimbola Odugbesan in der Silent University. Bild: Johannes Boscher / Tim Geissler

HAMBURG taz | Es ist still, wenn Abimbola Odugbesan redet. Vor 70 ZuhörerInnen steht er im Saal und spricht in ein Mikrofon. Hinter ihm projiziert ein Beamer ein Bild an die Wand, darauf eine Zeichnung von Sklaven, die zusammengepfercht auf einem Boot hocken. „Nigeria during the slavery in West Africa“ ist das Thema der Vorlesung. Odugbesan ist der erste Dozent der Silent University Hamburg.

Tausende Afrikaner seien damals nach Europa gebracht worden, sagt Odugbesan auf Englisch. „Today it‘s still the same“ – immer noch überquerten unzählige Menschen das Meer, um nach Europa zu gelangen. Und immer noch kämen sie unfreiwillig. Dass der Kolonialismus offiziell beendet und die Sklaverei abgeschafft ist, ändere daran nichts: „Only the methods have changed.“

Auch Odugbesan ist auf diesem Weg nach Europa gekommen, auch er wollte sein Land nicht verlassen. An nigerianischen Schulen hat er Englisch und Soziologie unterrichtet. „Aber als Lehrer verdienst du in Nigeria nichts“, sagt er. Als er anfing, gegen die Unterbezahlung zu protestieren und gegen die sexuelle Diskriminierung von Frauen zu mobilisieren, musste er fliehen. Zu groß war der Druck, den die Behörden auf ihn ausübten.

Ein Jahr später floh er erneut, diesmal aus Libyen, wo er Schutz und Arbeit gesucht hatte. Den europäischen Kontinent erreichte er, wie viele andere, in Lampedusa. Somit hat er in Deutschland weder ein Bleiberecht noch eine Arbeitserlaubnis. Damit passt der Lehrer genau in das Profil der Silent University.

Erfunden wurde die Silent University in London. Der kurdische Künstler Ahmet Ögüt setzte sie im Jahr 2012 als Kunstprojekt an der Tate Modern Gallery um. Mittlerweile gibt es sie auch in Stockholm und seit September 2014 in Hamburg.

„Silent University sagt, „okay, die Menschen sind hier und sie haben Wissen – das gilt es zu reaktivieren“, sagt Sophie Goltz. Sie ist Stadtkuratorin: Im Auftrag der Kulturbehörde organisiert sie Kunst im urbanen Raum. Ihr Büro in der Hafenstraße sieht ein bisschen unfertig aus, so spartanisch ist es eingerichtet. Ein weißer Tisch mit ein paar Stühlen und ein paar Bücher stehen darin, ein halb leeres Regal verdeckt eine Küchenzeile im hinteren Teil des Raumes.

Von hier aus kuratiert Goltz die Silent University, wirbt Gelder ein, spricht mit JournalistInnen. Durchdringend blickt sie einen an, überlegt kurz und antwortet dann knapp und präzise. Die Silent University Hamburg ist ihr Projekt, sie hat es hierhergeholt. Das heißt: soweit man eine im Internet existierende Institution nach Hamburg holen kann. Ein Gebäude hat die Universität schließlich nicht, auch keine Mensa, keine Copy Shops. Veranstaltungen finden in unregelmäßigen Abständen in der Werkstatt Drei, einem Bildungs- und Kulturzentrum in Altona, statt.

Die Stadtkuratorin beschreibt das Projekt auf ihrer Homepage so: „Silent University ist eine autonome Plattform für Wissensaustausch von und für Menschen mit Flüchtlingsstatus und auf Asylsuche sowie für Interessierte.“ Darunter steht ein Link, über den man sich einschreiben kann. Kriterien? Keine. Aber das Angebot richtet sich vor allem an diejenigen, „die eine akademische und berufliche Ausbildung in ihren Heimatländern abgeschlossenen haben, in Hamburg jedoch aufgrund des Aufenthaltsstatus nicht praktizieren können“.

Klingt eigentlich gut – eine zentrale Forderung der in Hamburg lebenden Flüchtlinge ist schließlich, hier arbeiten zu dürfen. „Lampedusa Professions“ heißt eine Kampagne der Geflüchteten. Mode-DesignerInnen, HandwerkerInnen und JournalistInnen stellen sich dort vor und pochen auf ihr Recht auf Arbeit. Aber der Senat stellt sich quer.

Seit zwei Jahren sitzt die SPD das Problem aus, verweigert den Dialog auf Augenhöhe, überhört die Forderungen der Flüchtlinge. Und dann wird Abimbola Odugbesan, Sprecher der Lampedusa-Gruppe, offizieller Dozent im Rahmen eines aus städtischen Mitteln finanzierten Projekts. Auf Umwegen bezahlt ihn die Stadt. Etwas paradox ist das schon. Ist der Senat schizophren?

Sophie Goltz findet das nicht. Das Geld komme ja vom Elbkulturfonds, sagt sie – also nicht direkt von der Stadt. Der Elbkulturfonds fördert „große und künstlerisch innovative Produktionen“, so steht es auf der Seite der Kulturbehörde, die den Topf verwaltet. Dann redet Goltz davon, was Kunst darf, was Politik nicht darf. „Kunst setzt eine andere Vision ein“, sagt sie, „die eine andere Behauptung aufstellt als Politik.“ Für Goltz ist das kein Widerspruch.

Ist die Silent University also ein künstlerisches und kein politisches Projekt? Die Flüchtlinge erwerben keinen Abschluss. Die Silent University stellt keine politische Forderung. Aber sie hat eine politische Dimension. Die tritt in Anschluss an Odugbesans Vortrag mit Gewalt zutage. Nach 45 Minuten Kolonialgeschichte und Verstrickung Hamburger Kolonialherren in die Ausbeutung Nigerias soll es Raum für Diskussionen geben. Ein älterer Herr meldet sich. Weiße Haut, weiße Haare, weißer Bart. Europa sei ja nun nicht an allem Schuld, was in Afrika schief laufe, meckert er. In 30 afrikanischen Ländern sei er schon gewesen! Während er von der Verantwortung redet, die Afrika übernehmen müsse, regt sich Gemurmel im Publikum. Leute schütteln die Köpfe, gucken sich verständnislos an – „respektlos“ nennen sie es, wie der Besserwisser seinen Senf dazu gibt.

Aber es geht weiter: Zweite Wortmeldung: gleiches Kaliber. Weiße Haut, weißer Schnurrbart, männlich. Auch er weiß alles besser als der schwarze Dozent und fängt an, die Fakten, die Odugbesan genannt hat, zu korrigieren. Dann sagt er, dass viele der Neuankömmlinge in Europa sich offenbar für sehr qualifiziert halten, und da wolle er mal nachfragen, wofür eigentlich – „Stopp!“ unterbrechen ihn andere TeilnehmerInnen, „I don‘t want to hear this!“, ruft eine Frau, „Abbrechen!“, fordert jemand anders.

Alle reden durcheinander, empört, verärgert, es herrscht Gewusel. Die Moderatorin Marenka Krasomil ergreift das Wort und entscheidet, weiterzumachen. Jemand meldet sich und erzählt von seiner Erfahrung in einem afghanischen Camp im Iran. Aber keiner hört richtig zu. Die Stimmung ist zu angespannt durch das, was gerade passiert ist. Die beiden Störer stehen auf, nehmen ihre Jacken und gehen.

Marenka Krasomil ist nicht nur die Moderatorin der Veranstaltung, sondern auch die Koordinatorin der Silent University Hamburg. Sie ist dafür zuständig, DozentInnen und TeilnehmerInnen anzuwerben, Themen zu besprechen, den Austausch zu pflegen. Auf die Frage, wo sie Silent University zwischen Kunst, Politik und Wissenschaft verortet, sagt Krasomil klar: „Es ist Kunst.“ Trotzdem reiche das Projekt weit über die Kunstszene hinaus in den gesellschaftlichen Kontext hinein.

„Es geht darum, Wissen wieder hervorzuholen, das auf der Flucht verloren ging“, sagt Krasomil. Häufig seien die Fluchterfahrungen so präsent, dass sie anderes Wissen, Gelerntes von früher, verdrängten. Gleichzeitig bestehe bei vielen das Bedürfnis, auf der Flucht gesammeltes Wissen zu vermitteln. Über Fluchterfahrungen redet man nicht viel in Europa. Deshalb „silent“: Das zum Schweigen gebrachte Wissen soll artikuliert werden.

Praktisch geht das so: Die stillen Studierenden bekommen einen Mitgliedsausweis, können das Uninetz nutzen, Materialien einsehen und am virtuellen Austausch teilnehmen. In der Werkstatt Drei soll ein Arbeitsraum entstehen, eine Bibliothek befindet sich im Aufbau. Als Arimbola Odugbesan noch in Nigeria unterrichtet hat, war Kolonialismus nicht unbedingt sein Thema. Er war Englisch- und Soziologielehrer. Erst mit der Flucht hat die Kolonialgeschichte für ihn an Bedeutung gewonnen. „Wir sind alle Produkte des Kolonialismus“, sagt er.

„Ich finde nicht, dass wir einfach so weitermachen können“, äußert sich eine Teilnehmerin, nachdem die Störer gegangen sind. Ihr sei unwohl und man müsse darüber reden, was passiert sei. Auch andere fordern, über den Vorfall zu reden. Krasomil will weitermachen, die Zeit ist knapp. Zwei Gastdozentinnen sollen noch referieren.

Der Vorfall treffe den Kern des Problems, sagte eine der beiden Wissenschaftlerinnen und leitet elegant in ihr Thema über. Nikita Dhawan ist Direktorin des Frankfurter Research Center for Postcolonial Studies. Wer sich mit der Aktualität des Kolonialismus beschäftigt, stößt unweigerlich auf sie und Maria Mar do Castro Varela, die neben ihr am Pult sitzt. „Transversale Pädagogik“ ist das Thema ihres Vortrags, „Wissen wird im Westen hergestellt“ eine zentrale These und eine dekoloniale Sicht auf die Vermittlung von Wissen das Ziel. Es geht um Foucault, Spivak und Gramsci, um hegemoniale Strukturen und transnationale Eliten – wie man Strukturen neu konfigurieren und einen epistemischen Wandel herbeiführen kann.

Für den Umgang mit dem rassistischen Zwischenfall haben die beiden auch keine Lösung. „Man kann jemanden nicht zum Zuhören zwingen“, sagt do Mar Castro. Als diskutiert wird, kommt Odugbesan wieder nach vorne. Auch er will niemanden zum Zuhören zwingen. Er will nur darauf aufmerksam machen, was ihm wichtig ist: Dass auch Rassismus ein Resultat der Sklaverei ist. Ob die weißen Männer das nun wahr haben wollen oder nicht. „They are inconscious“, sagt Odugbesan.

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