Minimalismus im Alltag: Was brauchen wir wirklich?

Entrümpeln? Das Leben vom Ballast befreien? Selbstbeschränkung liegt voll im Trend. Das Geschäft mit Ratgebern und Coaches boomt.

Leere weiße Wände, leerer Holzboden.

Minimalismus heißt, sich vom Ballast zu befreien. Foto: imago/Westend 61

BERLIN taz | „Je voller man sich die Bude stellt, immer leerer der Raum drin, wenn man sich unterhält,“ so rappte Casper in seinem Song „20qm“ im Herbst 2013. Im November 2015 legten Silbermond mit ihrem Album „Leichtes Gepäck“ nach: „Eines Tages fällt dir auf, dass du 99% nicht brauchst. Du nimmst all den Ballast und schmeißt ihn weg.“ Zu hinterfragen, was man wirklich braucht im Leben, ist nicht nur eine Idee, die in der Musikbranche thematisiert wird.

Was macht mich glücklich? Was brauche ich? Was belastet nur unnötig? Was bereichert mein Leben? Eine Vielzahl von Ratgebern, Filmen, YouTube-Videos, Minimalismus-Coaches und Blogs bieten Hilfe an. Interessierte und KundInnen hoffen, dass weniger Eigentum gleichzeitig auch mehr Glück bedeutet. Prof. Dr. Sascha Friesike von der Universität Würzburg beschäftigt sich mit Minimalismus, den er als die „gesellschaftliche Resonanz auf das Überangebot“ bezeichnet.

Als Folge des riesigen Produktangebots wollen immer mehr Menschen ihren Alltag und ihr Leben im Ganzen vereinfachen. „Die Leute sind auf der Suche nach Glück und Zufriedenheit. Sie arbeiten viel, kaufen eine Menge Dinge und werden trotzdem nicht glücklich. Dann gibt es eine scheinbar neue Idee: Einfach weniger besitzen“, sagt Friesike. So wird die Lebensart, die beispielswiese Mönche bereits seit Jahrhunderten führen, plötzlich zum neuen Lifestyle. Und wenn eine große Nachfrage besteht, kommen natürlich auch Produkte auf den Markt.

Minimalismus hat viele Facetten. Der Liftstyle dreht sich nicht nur darum, weniger Gegenstände zu besitzen, sondern sich von belastenden Beziehungen zu lösen, den verhassten Job aufzugeben und unnötige Aufgaben zu streichen. Sich vom Ballast lösen, ist die umfassendste Bezeichnung. Wie der Minimalismus genau angewandt wird, kann jeder Mensch für sich selber festlegen und entscheiden, was er oder sie zum Leben braucht und glücklich macht.

Alles wird in Kisten gepackt

Während in früheren Generationen der materielle Besitz wie Auto und Haus sehr wichtig waren, definieren sich viele junge Menschen heute darüber, was sie nicht besitzen. „Selbstbeschränkung ist die gesellschaftliche Antwort auf den Überfluss“, sagt Friesike. KonsumverweigererInnen sind sie nach seiner Auffassung jedoch nicht, da sie ihr Geld für Reisen, Restaurants und digitale Inhalte ausgeben.

Der Finne Petri Luukkainen wurde verlassen und versuchte seinen Trennungsschmerz mit Konsum zu mildern. Das half ihm nicht - die Besitztümer belasteten ihn. In einem Selbstversuch dokumentierte er in einem Film, wie er seinen gesamten Besitz von der Zahnbürste über die Plattensammlung bis zum Kühlschrank in eine Garage in Helsinki einschloss. Ein Jahr lang durfte der 26-Jährige jeden Tag nur einen einzigen Gegenstand herausnehmen. Er wog ab, was er am Dringensten benötigte. Neukäufe waren tabu. Mit jedem Teil, das wieder in seiner Wohnung landete, prüfte er, was er von seinem Besitz wirklich brauchte. Am Ende war es zwar eine neue Liebe, die Luukkainens Leben zum Guten änderte, dennoch brachte sein Film My Stuff den Minimalismusgedanken 2013 weltweit in die Kinos.

Auch Joachim Klöckner ist Minimalist. Das Wort kennt der 66-jährige erst seit zwei bis drei Jahren, obwohl er seit 30 Jahren mit immer weniger Dingen lebe und seit 15 Jahren nur noch soviel besitze, wie in eine Tasche passe. Seine Definition von Minimalismus: „Ich besitze nur wenige Dinge, damit ich ganz viel Zeit, Energie und Raum für das Leben habe.“ Je mehr Dinge man besäße, desto mehr Zeit würden sie in Anspruch nehmen. Klöckner sieht es als problematisch an, dass Dinge gepflegt und entstaubt werden müssen, dass sie Platz einnehmen, irgendwann entsorgt werden und Müll verursachen. Für Klöckner ist Minimalismus eng verknüpft mit Nachhaltigkeit und Effizienz. „Ich versuche suffizient zu leben, was bedeutet, wenige Dinge multifunkiontal zu nutzen.“

Sucht man Klöckner im Internet, so findet man ihn in vielen Beiträgen als Minimalismus-Coach. Dieses Label verpasste ihm vor einigen Jahren das österreichische Fernsehen. Er ist mit der Bezeichnung nicht glücklich, da sie sehr missionarisch klinge, der Fokus auf den Mangel gelegt werde und Minimalismus für ihn nur eine von vielen Möglichkeiten sei, sein Leben zu verschönern. „Viele betonen das Negative im Leben wie Zeitmangel, Burnout und Stress. Ich versuche den Fokus neu zu setzen – auf Zeitfülle und Freiheit.“ Dazu gehöre es auch, sich in allen Lebensbereichen wohlzufühlen. Er bietet Workshops und Opentalks beispielsweise zum Reisen an, in denen unter anderem der schaulustige Ökotourismus hinterfragt wird.

Minimalismus-Coaching

Wer viel kauft oder viele Dinge aus der Vergangenheit aufbewahrt, hat oft Schwierigkeiten Ordnung zu halten oder sich zu disziplinieren. Gründe für Stapel von ungelesenen Papieren sowie überquellenden Kleider- und Küchenschränken können sein, dass „manche Menschen nie gelernt haben, Ordnung zu halten, keine Zeit bleibt oder eine besonders belastende Situation wie etwa eine Trennung vorherging. Und auf einmal wird einem alles zu viel“, erklärt Rita Schilke aus Berlin, die seit 2010 Aufräum-Coach ist.

„Ich stelle mich meinen KlientInnen als positive Begleitung zur Verfügung, die Tipps zum Aufräumen und Ordnung halten gibt und darüberhinaus hilft, Entscheidungen zu treffen, was jemand aufheben, verschenken oder entsorgen möchte.“ Rund 500 KundInnen hat sie dabei unterstützt, sich in ihren Wohnungen wieder wohler zu fühlen.

Auch in der Schweiz gibt es eine zunehmende Nachfrage nach ExpertInnen. Minimalismus-Coach Selim Tolga aus Zürich erklärt, dass „es gerade in der heutigen Zeit, wo es von allem zu viel gibt – zu viele Produkte, zu viele Informationen, zu viele Möglichkeiten – vielen Menschen schwer fällt, einen Filter anzuwenden, der nur noch das Wesentliche durchlässt.“ Dieser Filter könne trainiert werden.

„Als Kind habe ich meine Spielsachen lieber aufgeräumt, anstatt mit ihnen zu spielen“, sagt Tolga. Seine Definition von Minimalismus lautet: „Man lebt nur noch mit Dingen und Gedanken, die man liebt und braucht.“ Seit sechs Jahren bietet er Coachings vor Ort und online an. Letztere werden gerne gebucht, weil „es für viele eine Hemschwelle zu überwinden gibt, einen Aufräumcoach nach Hause einzuladen.“ Tolgas KundInnen sind meistens über 45-Jährige, die sich nochmal neu erfinden wollen, und Geschäftsleute, die nach Möglichkeiten suchen, mehr Zeit und Freiheit im Berufsalltag zu etablieren.

Kommerzialisierung des Minimalismus

Friesike erklärt, dass es viele Unterströmungen des Minimalismus gibt: „Diejenigen, die nur wenig, aber dafür das Beste besitzen wollen, diejenigen, die sich dem Komsum total entsagen und ein Einsiedlerleben führen, diejenigen, die Minimalismus aus einer ästhetischen Perspektive betreiben und diejenigen, die etwas von ihrem eigenen Ballast loswerden wollen.“

Neue Regeln, neue Ziele, neuer Lebensinhalt. Friesike folgert, dass „das was früher religiöse Konzepte leisteten, jetzt teilweise vom Minimalismus aufgefangen wird. Ein neuer Wertekanon wird geschaffen.“ Dadurch komme es auch zu einer Kommerzialisierung des Minimalismus, da „in Zeiten, in denen klare und einfache Angebote nachgefragt werden, diese natürlich auch angeboten werden.“

Die ProtagonistInnen in vielen Ratgebern arbeiten zu viel, sind dick oder allgemein unzufrieden. „Dann setzt der Wandel ein, das Verhalten wird reflektiert, die Geschichte dokumentiert und am Ende verkauft“, erklärt Friesike. Leuten beizubringen, nur das Nötigste zu kaufen, dann aber den eigenen Ratgeber verkaufen zu wollen, sei ein innerer Widerspruch, der aber immerhin vielen MinimalistInnen bewusst sei.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.