Mit Flüchtlingen wohnen: Der Tag der toten Maus

Der 16-jährige Shabbir aus Afghanistan ist Teil der Familie von Katharina, Ärztin aus Hamburg-Eimsbüttel – und sein Freund Fahim auch.

Fahim, Katharina und Shabbir knien vor einem Regal in einem Supermarkt.

Den Alltag lernen: Fahim, Katharina und Shabbir beim Einkauf Foto: Miguel Ferraz

Der Käfig im Kinderzimmer ist mit einem dunkelblauen Tuch abgedeckt. „Die Maus ist tot“, sagt Katharina* zu Fahim*, „die mit dem Tumor.“ Der 24-Jährige lächelt höflich, als er zur Tür hereinkommt. In Afghanistan haben Kinder normalerweise keine Nager als Haustiere. Der älteste Sohn von Katharina hatte sogar gleich drei. Aber wie verhält man sich in Deutschland richtig, wenn eine Maus stirbt? Fahim sagt erst einmal nichts. Katharina lehnt die Zimmertür an. Wenn ihr 12-jähriger Sohn von der Schule nach Hause kommt, soll er den Käfig nicht gleich sehen. Sie will erst mit ihm reden. „Er wird traurig sein“, sagt sie. Fahim nickt. Jetzt schaut er auch ein bisschen bedrückt.

„Das hier ist wie eine Familie für mich“, sagt er später. Barfuß geht Fahim über den Dielenboden in die Küche. Seit Dezember ist er fast jeden Tag hier, in der Wohnung in Hamburg-Eimsbüttel. Er fühlt sich hier wohler als im kleinen Doppelzimmer in einer Flüchtlingsunterkunft in Harburg. „Da ist es immer laut“, sagt er, „und unordentlich.“

Katharina hat er über drei Ecken kennengelernt. Die 35-Jährige ist Ärztin und behandelt ehrenamtlich Flüchtlinge im „Bieberhaus“ am Hamburger Hauptbahnhof, wenn ihre drei Söhne morgens in der Schule und dem Kindergarten sind. Ein anderer Freiwilliger bat sie, für eine Nacht einen 16-Jährigen aufzunehmen, der ohne seine Familie nach Deutschland geflüchtet war: Shabbir*.

„Für mich war klar, dass ich helfen möchte“, sagt Katharina. „Das habe ich von meiner Oma gelernt.“ In deren Wohnhaus lebten nach dem Krieg auch geflüchtete Familien. In jedem freien Zimmer eine. „Das ging nicht anders“, sagt sie – genau wie jetzt.

Die Familie ist zusammengerückt

Shabbir blieb nicht nur für eine Nacht. Der 16-Jährige lebt nun schon seit Anfang Dezember bei der fünfköpfigen Familie – wie lange noch, ist ungewiss. Er schläft in einem der Kinderzimmer, ein kleiner Raum mit einem selbstgebauten Hochbett. Das Podest ist mit flauschigem, grünen Teppich bedeckt, Deutschbücher liegen darauf. Darunter steht ein ungemachtes Bett, Haargel im Regal. Ein Teenagerzimmer.

Die Familie ist zusammengerückt: Katharinas ältester Sohn schläft jetzt bei seinem kleinen Bruder auf dem Sofa. Und wo Shabbir ist, ist meist auch Fahim: Die beiden kommen aus dem gleichen Dorf nördlich von Kabul. Kennengelernt haben sie sich erst in Athen: auf der Flucht. Jetzt passt Fahim auf Shabbir auf wie ein großer Bruder. „So gut ich kann“, sagt der 24-Jährige.

Fahim lebt schon seit eineinhalb Jahren in Deutschland, sein Deutsch ist schon ganz gut. Shabbir ist erst seit knapp drei Monaten hier. Die griechische Polizei griff ihn auf – und schickte ihn zurück. Erst beim zweiten Fluchtversuch hatte er Glück. Fahim schlug sich mit der Hilfe von Schleusern bis nach Italien durch. Was er dafür bezahlen musste, weiß er nicht. „Sie haben jemand in Afghanistan“, sagt er. An den habe seine Familie das Geld übergeben.

Den Weg nach Italien hat Fahim in einem Container zurückgelegt, auf einem LKW. „Wir saßen so“, sagt er und zieht die Arme und die Beine dicht an den Körper, „60 Stunden lang.“ Neun Männer, darunter zwei 14-Jährige, versteckten sich in kleinen Hohlräumen zwischen der Fracht. Der Fahrer ließ sie einfach raus, an einer Autobahn irgendwo in Italien. „Laufen konnten wir nicht mehr“, sagt Fahim, die Schmerzen in den Beinen waren zu groß. Sie schliefen in einem Feld und wanderten am nächsten Tag in ein nahe gelegenes Dorf – wo sie die Polizei stoppte.

„Wir kamen in eine Zelle, aber die Tür war so“, sagt Fahim und öffnet die Klappe des Backofens ein Stück. Am nächsten Tag durften sie weiterreisen. Fahim fuhr mit dem Zug über Rom und Paris nach Brüssel, wo er ein paar Monate lang blieb. Dann reiste er weiter nach Deutschland.

Die europäischen Grenzen sind für ihn ein eigenartiger Anblick. „Da sind Blumen“, sagt er und schiebt eine Teetasse mit Goldrand in die Mitte des Tisches. Dann legt er zwei silberne Löffel darunter und darüber. „Das sind die Niederlande und Belgien und dazwischen nur Blumen.“ Er lacht. „Für mich war es gut.“ Im Iran hatten Grenzbeamte noch auf ihn geschossen.

Auf der Flucht hat er sich selbst das Kochen beigebracht: Reis mit Hähnchen und Bohnen mit Koriander, Tomaten und Fladenbrot. „Seit sie bei uns sind, essen wir fast jeden Tag Bohnen“, sagt Katharina. „Shabbir ist der Bohneneintopflehrling – Fahim der Chef.“

Die roten Bohnen sind aus

Heute fehlt aber die wichtigste Zutat: die roten Bohnen. Im Supermarkt um die Ecke sind die Kidneybohnen ausverkauft. „Da gibt es noch wen außer uns, der die palettenweise kauft“, sagt Katharina. Deshalb wollen sie jetzt zum türkischen Supermarkt gehen. Shabbir fährt mit seinem Fahrrad nebenher – ein Geschenk von einer ehrenamtlichen Unterstützerin. Es ist schon älter und golden lackiert. „Für ihn ist es ein Porsche“, sagt Katharina.

Der 16-Jährige sieht noch jung aus. Er hat nur einen dünnen Flaum über der Lippe und ein jungenhaftes Lächeln. Beim städtischen Jugendnotdienst hätten ihn die Mitarbeiter trotzdem nach zwei Tagen wieder vor die Tür gesetzt. „Ohne richtiges Interview“, sagt Katharina. Die Sozialpädagogen schätzten, dass Shabbir volljährig ist.

Nun wartet er auf Papiere aus Afghanistan, die beweisen sollen, dass er minderjährig ist. Wenn die da sind, kann er zur Schule gehen. Bis dahin muss er warten, bekommt ein paar Stunden Sprachunterricht die Woche von ehrenamtlichen Helfern, geht manchmal mit Katharinas Sohn zum Schlittschuhlaufen auf der Eisbahn im Park Planten un Blomen – und jeden Samstag zum Cricket-Training. Die Sportart ist in Afghanistan sehr populär. Auf dem Handy zeigt Shabbir ein Foto von sich in voller Montur: Er trägt einen Helm mit einem Gitter vor dem Gesicht, dick gepolsterte Schienbeinschoner und einen Holzschläger. „Es macht Spaß“, sagt er. Auf Deutsch.

Der Junge wirkt höflich und zurückhaltend. Im türkischen Supermarkt trägt er den Einkaufskorb. Katharina packt Spitzkohl, Orangen und drei große Dosen Bohnen ein. Shabbir spricht ein paar Worte auf Türkisch mit dem Verkäufer. „Es ist irre, was die alles an Sprachen können“, sagt Katharina. Bollywoodfilme gucken sie auf Hindi. Dazu kommen Englisch, Deutsch, ihre Muttersprache Dari und je ein paar Sätze aus allen Ländern, die auf ihrer Fluchtroute lagen.

Katharina zahlt, dann geht es mit vollen Einkaufstüten zurück. In der Küche holt Fahim den Wok aus dem Ofen. Er kennt sich hier aus, kocht gerne mit den vielen Gewürzen im Schrank: Koriander, Chili, Cayenne Pfeffer, Garam masala. In seiner Unterkunft in Hamburg-Harburg könne er nichts in den Gemeinschaftsräumen liegen lassen, sagt er: Es würde geklaut. Lebensmittel lagert er deshalb in seinem Zimmer.

Fahim würde gern in eine eigene Wohnung ziehen, aber seine Duldung läuft immer nur für sechs Monate und wird dann verlängert. Zu kurz für einen Mietvertrag. Auch einen Job als Tellerwäscher in einem Restaurant hatte er schon gefunden. „Aber die haben nicht den Mindestlohn gezahlt“, sagt er. Die Behörde habe ihm deshalb nicht erlaubt, den Vertrag zu unterschreiben.

„Ich mache mir echt Sorgen um ihn“, sagt Katharina. Fahim leide darunter, dass er seine Situation nicht selbst verbessern könne. Beide Afghanen sind der 35-Jährigen wichtig geworden. Dabei gibt es auch schon mal Streit. „Letzte Woche habe ich zum ersten Mal gesagt: Es wird gegessen, was auf den Tisch kommt“, sagt die dreifache Mutter und schmunzelt. Sie hatte für einen ihrer Söhne Nudeln mit Tomatensoße gekocht. Shabbir wollte davon nicht mal probieren. „Gleich danach haben die beiden sich etwas Eigenes gekocht“, so blieb am Ende viel Essen übrig. „Aber er ist halt auch erst sechzehn. Das ist normal.“

„Hier ist es gut“

Respektlos seien Fahim und Shabbir nie gewesen. „Ich fühle mich total wertgeschätzt.“ Die vielen männlichen Asylsuchenden, die allein nach Europa kämen, seien „alles Familienmenschen.“ „Wenn wir uns nicht um sie kümmern, verlieren wir sie.“ Katharina hofft, dass noch mehr Leute hier Geflüchtete bei sich aufnehmen. „Es bringt einem mehr, als man gibt.“ Wie lange Shabbir bei ihr bleiben kann, ist unklar. Er ist noch nicht in Hamburg registriert, lebt hier eigentlich illegal. „Wahrscheinlich werde ich die Vormundschaft für ihn übernehmen“, sagt Katharina. Der 16-Jährige will bei der Familie bleiben. „Hier“, sagt er, „ist es gut.“

Fahim stellt eine Pfanne mit dampfendem Bohneneintopf auf den Tisch und legt das Fladenbrot daneben. Dazu gibt es Salat mit Granatapfelsirup und Limettensaft – die Menschen, denen Katharina in den vergangenen Monaten geholfen hat, haben Spuren in ihrer Küche hinterlassen. Die drei fangen an zu essen. Bald kommt Katharinas Sohn von der Schule nach Hause. Dann gibt es im Garten noch eine Beerdigung.

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