Motiv der Geiselnahme von Istanbul: Die Siegerjustiz des Gezi-Sommers

Demonstranten leben gefährlich: Die juristische Aufarbeitung der Proteste von 2013 läuft einseitig. Daran wollten die Geiselnehmer erinnern.

Festnahmen von Gezi-Demonstranten im Juli 2013. Bild: reuters

ISTANBUL taz | Hunderte Gezi-Demonstranten wurden seit den Ereignissen im Sommer 2013 bereits zu hohen Strafen verurteilt oder sehen sich noch mit enormen Strafandrohungen konfrontiert. Die meisten der für die getöteten Demonstranten verantwortlichen Polizisten sind bislang hingegen nicht belangt worden. In den türkischen Medien findet dieser Umstand kaum noch Erwähnung. Deswegen wollten die Geiselnehmer vom 31. März – angeblich Mitglieder der linksradikalen DHKP/C – an diese Tatsache erinnern.

Im konkreten Fall ging es um die Polizisten, die im Sommer 2013 den 15 Jahre alten Berkin Elvan mit einer Tränengasgranate so schwer verletzt hatten, dass er zunächst neun Monate im Koma lag und dann an seinen Verletzungen verstarb. Bis heute ist kein Polizist deswegen angeklagt worden – und das ist nicht die Ausnahme, sondern eher die Regel.

Neun mehr oder weniger junge Männer sind während der Gezi-Proteste im Sommer 2013 getötet worden. Erst in zwei Fällen hat es bislang Prozesse gegen Polizisten gegeben, die wegen Totschlag zu relativ milden Haftstrafen verurteilt wurden. In der Praxis werden diese dann noch einmal verkürzt.

Im einen Fall wurde in Ankara ein Polizist verurteilt, von dem es Videobilder gab, die zeigen, wie er aus nächster Nähe gezielt auf einen unbewaffneten Demonstranten schießt. Im anderen Fall ging es um einen Studenten in Eskisehir, der am Rande einer Demonstration von Zivilpolizisten und aufgewiegelten AKP-Anhängern so schwer geschlagen wurde, dass er an einer Hirnblutung verstarb. Wiederum gab es Videoaufnahmen, die die Justiz nicht ignorieren konnte, und wiederum waren die Strafen extrem milde.

Einen Tag nach der tödlichen Geiselnahme eines Staatsanwalts durch Linksextremisten in Istanbul ist das Polizeipräsidium in der türkischen Metropole angegriffen worden. Eine "Terroristin", die eine Bombe am Körper getragen habe, sei am Mittwoch von Sicherheitskräften getötet worden, meldete die Nachrichtenagentur Anadolu unter Berufung auf den Gouverneur Istanbuls, Vasip Sahin. Der zweite Angreifer - ein Mann - sei verwundet gefasst worden. Ein Polizist sei leicht verletzt worden.

Anadolu berichtete, die beiden Angreifer hätten am Haupteingang des Präsidiums das Feuer eröffnet. Sicherheitskräfte hätten zurückgeschossen. Anadolu zeigte ein Foto einer Toten mit einem Schnellfeuergewehr, neben der Leiche war eine Pistole zu sehen. Die Hintergründe des Angriffs waren zunächst nicht bekannt. (dpa)

Ganz anders sieht die justizielle Aufarbeitung bei vermeintlichen Straftaten von Demonstranten aus. Wegen Sachbeschädigung, angeblichen Aufrufen zum Widerstand gegen die Staatsgewalt und anderer Kleindelikte sind bereits Hunderte junger Leute zu teils schweren Strafen verurteilt worden.

Mehr als 20 Jahre Haft gefordert

Die beiden wichtigsten Prozesse im Zusammenhang mit den Gezi-Protesten laufen aber noch. Zum einen sind dabei eine Reihe von Vertretern von Bürgerinitiativen oder Berufsgenossenschaften wie der Architekten- oder Anwaltskammer als Drahtzieher der Gezi-Proteste angeklagt. Sie hatten damals eine Taksim-Plattform gegen die Bebauung des Parks gebildet und später den organisierten Rahmen für die Parkbesetzung bereitgestellt. Nun sollen sie wegen organisierter Kriminalität belangt werden – der Staatsanwalt fordert teils mehr als 20 Jahre Haft.

Am heftigsten geht der Staat aber gegen Mitglieder des Fußballfanclubs von Besiktas vor. Mitglieder dieses „Carsi“ genannten Fanclubs hatten bei Auseinandersetzungen mit der Polizei oft in der ersten Reihe der Demonstranten gestanden, oft auch die Polizei aufgehalten, damit andere Demonstranten fliehen konnten.

Fußballfanclubs sind Prügeleien gewohnt, und im Normalfall schaut die Polizei da eher weg. Ganz anders in diesem Fall. Weil die Fußballfans im Gezi-Widerstand mitgemischt haben, sollen sie nun als Teil einer Terrororganisation verurteilt werden, in mehreren Fällen fordert die Staatsanwaltschaft lebenslängliche Haftstrafen. Demonstrieren gegen die Regierung, so die Botschaft, ist eine gefährliche Angelegenheit.

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