Nach dem Urteilsspruch gegen Mubarak: Zurück zum Punkt null

Die Menschen in Ägypten demonstrieren gegen das ihrer Meinung nach zu milde Urteil gegen Ex-Präsident Mubarak. Und gegen die Freisprüche der Sicherheitschefs.

Ein Demonstrant auf dem Tahrir-Platz schreit seinen Protest laut heraus. Bild: dpa

KAIRO taz | Angespannt standen sie auf dem Parkplatz des Kairoer Gerichtssaales und warteten vor den Autoradios auf den Urteilsspruch, der live übertragen wird. Viele Familien sind gekommen, die im 18-tägigen Aufstand gegen Mubarak Angehörige verloren haben, und wollen sehen, ob der Diktator tatsächlich zur Rechenschaft gezogen wird. Viele haben auf Poster aufgezogene Fotos der Toten mitgebracht.

Als der Richter „lebenslänglich“ für Mubarak verkündet, springen sie auf und jubeln. Einige schießen Feuerwerk in den Kairoer Mittagshimmel. Schuld, Sühne, Rache, alle diese Gefühle explodieren in diesem Moment. Viele weinen. Eine Mutter, die im Aufstand ihren Sohn verloren hat, kniet sich auf dessen Bild, küsst es und schreit dabei immer wieder: „Mein Sohn, du hast dein Recht bekommen.“

Dann wird es wieder ruhiger. Diejenigen, die bei den Radiogeräten geblieben sind und den Rest des Urteils anhören, schreien verzweifelt. Die, die gerade noch gefeiert haben, kommen wieder neugierig dazu. Freispruch für sechs der höchsten Ex-Polizeioffiziere und für die beiden Mubarak-Söhne: Die Stimmung kippt, einige der Familien stürmen wutentbrannt auf die Polizeiketten vor dem Gericht zu.

Es kommt zu Prügeleien und Festnahmen. „Ich hätte meinen Kindern heute gerne gesagt, dass der Tod ihres Vaters gesühnt worden ist. Jetzt sind die Polizeioffiziere freigesprochen“, sagt eine in Trauerschwarz gekleidete Frau vor dem Gericht und beginnt zu weinen. „Was soll ich jetzt denen sagen, wenn ich nach Hause gehe?“

„Die Märtyrer wurden nicht gesühnt“

Doch viele gingen nicht nach Hause, sondern begannen, sich am Nachmittag auf dem Tahrirplatz zu versammeln. Bis zum Abend standen dort wieder mehrere zehntausend Menschen. Spontan waren sie gekommen, genauso wie damals, zu Zeiten des Aufstandes. „Wenn die Polizeigeneräle einen Freispruch bekommen haben, wer bitte hat die Leute am Tahrir getötet? Soll das heißen, dass die Leute sich selbst umgebracht haben?“, fragt die Englischlehrerin Amira Hassan.

„Jetzt mit dem Urteilsspruch ist die Revolution dahin, die Märtyrer wurden nicht gesühnt – alles ist weg; wir sind wieder zum Punkt null zurückgekehrt“, sagt sie. Besonders wütend mache sie, „dass die uns nicht für voll nehmen“, empört sie sich. „Die glauben, wir sind dumme Kinder und verstehen nicht, welches Spiel sie spielen. Wir durchschauen sie aber.“

Der Elektroingenieur Islam Suleiman glaubt, dass Mubaraks Anwälte jetzt in Berufung gehen und er am Ende sogar freigesprochen wird. „Aber bevor sie diese Komödie zu Ende bringen, glaube ich, dass das Volk sich erheben wird und jenen an den Kragen gehen wird, die die Fäden dieses Marionettenspiels ziehen“, sagt er wütend voraus. Er war, nachdem er von dem Urteil gehört hatte, im Süden des Sinai in sein Auto gestiegen, um acht Stunden später hier auf dem Tahrirplatz zu stehen, erzählt Suleiman.

So weit hätte er gar nicht fahren müssen. Denn überall im Land kam es zu spontanen Protesten gegen das Urteil. Besonders groß war die Demonstration in Alexandria. Aber auch in den Städten des Deltas und am Suezkanal, im südlichen Oberägypten bis Asswan und im Nord-Sinai gingen die Menschen gegen das Urteil auf die Straße.

Als Präsident den Fall neu aufrollen

Dabei war überall auch Thema der Diskussionen, welche Auswirkungen das Urteil auf die Stichwahl für die Präsidentschaft in zwei Wochen haben wird. Der Kandidat der Muslimbrüder, Mohammed Mursi, ging kurz nach dem Urteilsspruch an die Öffentlichkeit und versprach, als Präsident den Fall neu aufzurollen, um der Gerechtigkeit Genüge zu tun.

Am Abend kam er dann persönlich auf den Tahrirplatz – genauso wie die Kandidaten, die es nicht in die Stichwahl geschafft haben, wie der wegen seiner liberalen Haltung aus der Muslimbruderschaft ausgeschlossene Abdel Monem Abdel Futuh und der linke Nasserist Hamdin Sabahi, der auf dem Platz vor Erschöpfung zusammenbrach und im Krankenwagen abtransportiert wurde.

Viele auf dem Tahrir diskutierten die Möglichkeit eines Zusammenschlusses dieser Kandidaten, die Mursi zu einer Regierung der nationalen Einheit vereinen soll, um den Sieg des zweiten Kandidaten, des letzten Regime-Premiers und Mubarak-Bewunderers Ahmed Schafik zu verhindern. Viele glauben, dass dieser seinen Amtsvorgänger begnadigen würde, wenn er erst Präsident ist.

Bei den Protesten in Suez, einer der schon während des Aufstandes gegen Mubarak aktivsten Städte, unterschrieb der Jugendblock, eine Bündnis von jungen Aktivisten, eine Petition, die fordert, dass Hamdin Sabahi, Adel Monem Abul Futuh, Mohammed Mursi und der Friedensnobelpreisträger Mohammed al-Baradei, der die Präsidentschaftswahlen boykottiert hatte, einen Präsidentschaftsrat formen sollen, um die Revolution zu retten.

Abul Futuh hat angekündigt, dass er sich heute mit Mursi und Sabahi treffen werde, um „den letzten Vorkommnissen gerecht zu werden“.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.