Nach den Protesten in Weißrussland: Der Präsident und die Faulenzer

Tausende Menschen demonstrierten im März gegen Präsident Lukaschenko. Der Unmut bleibt, doch die Opposition ist gespalten.

Eine Frau in violettem Mantel diskutiert mit sechs voll gepanzerten Polizisten am Rande der Proste vom 23. März 2017 in Minsk

Bunte Opposition: Diskussionsbedarf am Rande der Proteste vom 25. März 2017 in Minsk Foto: dpa

MINSK taz | Behutsam hält die Tänzerin die Kerze in den Händen. Immer schneller wirbelt sie um die eigene Achse und hält ihre Hand schützend vor die Kerze. Zwei Geigen und eine Bassbalalaika spielen dazu. Das weiße Kleid mit den roten Stickereien bläht sich auf. Wird die Kerze verlöschen? Die Zuschauer halten den Atem an. Erst als die Tänzerin mit dem letzten Akkord das Flämmchen ganz vorsichtig ausbläst, kommt wieder Bewegung in die Reihen.

„Der Kerzentanz ist ein alter Tanz aus den Dörfern von Belarus“ erzählt Natalja Djagel. „Das Licht das ganze Leben lang in unserer Seele zu tragen, das ist die Botschaft.“ Djagel ist Gründerin und Leiterin von „Chabarok“, zu Deutsch „Wilder Thymian“. Die Musiker und Tänzer von Chabarok sind bei staatlichen Stellen beliebt, auch beim Militär, sogar für Präsident Lukaschenko haben sie schon gespielt. Bald werden sie hier, im Palast für Kinder und Jugendliche in Minsk, ihr 30-jähriges Bestehen feiern.

Natalja Djagel sieht ihren Musikern mit kritischem Blick hinterher, als sie sich nach dem Auftritt einen Wodka genehmigen. Wodka, das weiß sie, löst die Zunge. Schnell kommen sie auf die Demonstrationen im März und das „Faulenzergesetz“ zu sprechen. Seit April 2015 muss jeder, der weniger als 183 Ka­lendertage im Jahr arbeitet, eine Sondersteuer von bis zu 200 Euro zahlen.

Kurz vor Ablauf der Zahlungs­frist im Februar dieses ­Jahres entlud sich erstmals der Zorn der Menschen. Zu ­Tausenden gingen sie in ­verschiedenen Städten auf die Straße. In Minsk wurden Hunderte verhaftet, viele schon im Vorfeld des Protests. Doch Präsident Lukaschenko ruderte zurück und verlängerte die Zahlungsfrist für die Strafen um ein Jahr. Ein Teilerfolg.

Angst vor ukrainischen Verhältnissen

„Mit diesem Gesetz hat Lukaschenko einen Fehler gemacht“, beginnt der breitschultrige Ihor, der die Balalaika spielt. Dennoch habe er selbst sich an den Protesten nicht beteiligt. Warum? Ihor, ein Ukrainer, hat große Angst vor ukrainischen Verhältnissen. Seine gesamte Familie, erzählt er, wohne in der Westukraine.

Eine Tänzerin, die Tochter auf dem Schoß, nickt heftig: „Meine Schwester wohnt in Kiew, meine Oma in Donezk. Seit drei Jahren reden die nicht mehr miteinander.“ Schön sei es nicht, wie der Staat gegen die Demonstranten vorgegangen sei, fährt Ihor fort. Aber würden nicht auch in den USA Demonstrationen mit Gewalt aufgelöst? Die Sicherheitskräfte hier hätten jedenfalls keine Wasserwerfer und kein Tränengas eingesetzt, davon ist er überzeugt.

Überhaupt habe das Land dank Lukaschenko in den letzten Jahren große Fortschritte gemacht. Weißrussland ist zu einem Scharnier zwischen West und Ost geworden. Ihor redet sich in Fahrt – je länger, desto staatstragender klingt er. Den Weißrussen gehe es wirtschaftlich besser als den Ukrainern, glaubt er. Nein, Lukaschenko, davon ist er überzeugt, wird bleiben. Und das sei gut so.

Eine Kollegin hat geschwiegen und ihren Bassisten nur missbilligend angeblickt. Dann steht sie auf, weil das Taxi wartet, und sagt im Hinausgehen: „Ich glaube, Lukaschenko hat immer noch nicht begriffen, dass seine Zeit längst abgelaufen ist.“ Das Ensemble ist gespalten. Die Künstler stecken in der Zwickmühle. Als städtische Einrichtung wollen sie dem Staat gegenüber loyal sein. Andererseits sind es gerade Künstler, die mit ihren Gelegenheitsjobs vom „Faulenzergesetz“ betroffen sind.

Ein Hauch Monte Carlo in Minsk

Der Präsident: Alexander Lukaschenko ist seit 1994 Präsident von Weißrussland. Der 62-Jährige, der als „letzter Diktator Europas“ bezeichnet wird, unterdrückt Opposition, Menschenrechte und Medien.

Das Gesetz: Im April 2015 erließ er ein Dekret „Über den Schutz vor sozialem Schmarotzertum“. Weißrussen, die weniger als 183 Kalendertage im Jahr arbeiten, sollen eine Sonder­steuer von bis zu 200 Euro zahlen, sonst drohen ihnen Geldstrafe oder Arrest. Bisher haben aber nur etwa 11 Prozent der 500.000 Betroffenen gezahlt.

Der Protest: Im Februar und März protestierten Weißrussen zu Tausenden in verschiedenen Städten. In Minsk wurden Hunderte verhaftet, viele schon im Vorfeld der Proteste. Lukaschenko gab nach und verlängerte die Zahlungsfrist um ein Jahr.

Traut man der Werbung auf den Minsker Straßen, braucht es keine Sondersteuer. Die weißrussische Hauptstadt scheint genug Geld zu haben. Mehr noch, es weht ein Hauch von Monte Carlo. Die riesigen Werbetafeln für Spielkasinos fallen ins Auge. Glücksspiel ist in der Ukrai­ne und Russland weitgehend verboten, doch Präsident Lukaschenko will sich die zusätzlichen Steuereinnahmen nicht entgehen lassen.

Aber auch die Sowjetunion ist hier noch präsent. Auf dem Unabhängigkeitsplatz, der bis 1990 Leninplatz hieß, fällt der Blick auf die mächtige bronzene Leninstatue – die größte der Welt, glaubt man den Passanten. Nichts auf diesem Platz scheint dem einstigen Führer des Weltproletariats zu entgehen. „Ich weiß nicht, warum Lenin hier unbedingt stehen muss“, meint ein älterer Herr mit Stock. „Doch er soll bleiben.“

Was Lenin nicht ahnt – unter dem Beton zu seinen Füßen verbirgt sich ein Shoppingcenter. Dort, in einem Burger-Restaurant, erzählt Olga Deksnis, wie stolz sie darauf ist, dass sie sich als Journalistin aus alten Zwängen freigeschaufelt hat.

Ein halbes Jahr arbeitete die alleinerziehende Mutter beim staatlichen Fernsehen, erzählt sie, dann bei der Komsomolskaja Prawda. Einfach sei es nicht gewesen, bei Medien zu arbeiten, die von ihren Mitarbeitern viel Lob für die Regierung erwarteten. Jetzt arbeitet Olga Deksnis, die 100 Kilometer von Minsk entfernt in dem Städtchen Wilejka lebt, freiberuflich bei einem unabhän­gigen Medium.

120 Euro für's Faulenzen

Die Aufforderung vom Finanzamt, 120 Euro für ihr „Faulenzen“ zu bezahlen, hat sie nicht nur deswegen getroffen, weil sie das Geld schlicht nicht hat. Es ist ein Angriff auf ihre Autonomie. Demütigend war es, erzählt sie, als ihr gesagt wurde, sie könne sich doch auf dem Arbeitsamt um einen Job bemühen. Olga Deksnis’ Empörung ist jetzt noch zu spüren. In Wilejka gibt es auf dem Arbeitsamt 15 freie Stellen, schimpft sie, als Melkerin, Traktorist und Verkäuferin im Dorfladen.

Und nicht nur das. Immer wieder suchten Beamte angebliche „Schmarotzer“ auf und böten ihnen in Begleitung eines Kamerateams Arbeit an. Wer sich weigert, muss damit rechnen, im Staatsfernsehen als Prototyp eines Faulenzers vorgeführt zu werden.

Dieser und viele weitere Artikel wurden durch finanzielle Unterstützung des Auslandsrecherchefonds ermöglicht.

Olga Deksnis ist sich sicher: Es reicht nicht, an Symptomen zu arbeiten, das Gesetz gegen Faulenzer zurückzunehmen oder die Zahlungsfrist zu verlängern. „Wir leben seit 22 Jahren in einer Diktatur. Wirklich etwas bessern wird sich erst, wenn der Diktator geht. Und dann müssen wir in wirklich freien Wahlen einen neuen Präsidenten wählen.“

Nur wenige Hundert Meter von der Leninstatue entfernt befindet sich das Café Tscheburetschnaja. Es ist eines der wenigen Häuser aus der Zarenzeit, die Krieg und deutsche Besetzung überstanden haben. Mit seinem Stil passt es so gar nicht zwischen die sonst wuchtige sowjetischen Architektur Minsks. Drinnen in schummrigem Licht russische und weißrussische Gerichte angeboten. Besonders beliebt sind die Tschebureki, eine in Öl gebackene Teigspeise, die ursprünglich von den Krimtataren stammt.

Eine halbe Million „Faulenzer“

„Hier ist am 25. März 1918 die Weißrussische Volksrepublik ausgerufen worden“, sagt Ale­xander Oparin im Tonfall eines Verschwörers. Deswegen finden jedes Jahr am 25. März Demonstrationen für die Unabhängigkeit des Landes statt. Und in diesem Jahr fiel die Demonstration besonders groß aus. Schließlich sind 500.000 Weißrussen vom „Faulenzergesetz“ betroffen.

Oparin, der eigentlich bei jeder Demonstration dabei ist, wenn es um soziale Belange geht, war an dem Tag nicht auf der Straße. „Das ist für mich ein Feiertag der Nationalisten“, erklärt er. Für ihn biete diese Volksrepublik, die sich sehr schnell nach rechts entwickelt hat, keinen Anknüpfungspunkt. Gegründet wurde sie kurz nach dem Frieden von Brest-Litowsk mit Zustimmung des deutschen Generalstabs. „Das kann doch nicht klappen, eine unabhängige Republik unter den Augen der deutschen Besetzer auszurufen!“

Vermutlich hätte der 42-Jährige am 25. März protestiert – wenn er sich nicht im Laufe der letzten elf Jahre langsam von einem Konservativen zu einem Linken entwickelt hätte. 2006 unterstützte er noch aktiv den Wahlkampf des konservativen Oppositionskandidaten Ale­xan­der Milinkewitsch. Heute ist er Aktivist in der linken, oppositio­nellen Partei „Gerechte Welt“, die etwa 2.000 Mitglieder hat und seit 2009 Mitglied der Europäischen Linken ist.

„Kneipen in Minsk, die kein Bier anbieten, können nicht überleben“, sagt Oparin plötzlich und greift zum Glas, das ihm die Kellnerin vor die Nase gestellt hat. Rechte, Linke, Liberale – die weißrussische Opposition ist zersplittert. Einige befürworten den Dialog mit der Regierung, andere sind strikt dagegen. Es gibt Gegner von Privatisierungen und es gibt welche, die darin das Heil sehen. Doch in einem sind sich alle erstaunlich einig: In Weißrussland wird es nicht zum Bürgerkrieg kommen. „Hier spricht man miteinander“, beteuert Oparin. Auch mit angeblichen Faulenzern.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.