Nach rabiater Räumung: Berlin-Mitte macht nicht mit

Der Senat will ehemalige Obdachlose berlinweit als Streetworker einsetzen, um auf der Straße lebende Menschen besser zu erreichen.

Polizisten ziehen einer obdachlosen Frau ein Tuch über den Kopf, während ihr Hab und Gut in den Müll wanderte

Polizist*innen in Berlin zogen einer Obdachlosen ein Tuch über den Kopf, während ihr Hab und Gut in den Müll wanderte Screenshot: taz

Der Senat will eine neue Taskforce gegen Obdachlosigkeit einrichten: Rund 30 Menschen, die früher selbst auf der Straße gelebt haben, sollen als Obdachlosen-Lotsen durch die Stadt gehen, Menschen ansprechen und sie an Hilfseinrichtungen weiterleiten. Das sagte Sozialsenatorin Elke Breitenbach (Linke) der taz: „Das Vertrauen ist größer, wenn Menschen kommen, die sich in ihre Lebenssituation wirklich hineinversetzen können.“

Wohnungslose sollen im Gespräch überzeugt werden, freiwillig in eine Unterkunft zu wechseln. Auf diese Weise will die Senatorin Räumungen von Obdachlosencamps verhindern. Finanziert werden könnten die Lotsen über das Solidarische Grundeinkommen, einem öffentlichen Beschäftigungsprogramm Berlins, das in diesem Jahr als Modellprojekt starten soll.

Zuletzt hatte die rabiate Räumung eines Camps nahe dem Hauptbahnhof für Empörung gesorgt. Ein von der taz veröffentlichtes Video zeigt, wie die Einsatzkräfte einer gefesselten Frau von hinten ein Tuch wie einen Sack über den Kopf ziehen und sie dann abführen. Breitenbach bezeichnete das als „unerträglich“. Mehrere Landespolitiker verurteilten den Einsatz als „unverhältnismäßig“ und forderten Aufklärung. Die Polizei rechtfertigte ihr Vorgehen mit dem Schutz der eigenen Leute – die Frau habe viele Läuse gehabt. Sie sei auch aggressiv gewesen und habe gespuckt. Auf dem Video ist das nicht zu sehen.

Der Bezirksbürgermeister von Mitte, Stephan von Dassel (Grüne), hatte sich zunächst bei den Einsatzkräften „für ihr umsichtiges Handeln“ bedankt. „Auch mich hat der veröffentlichte Ausschnitt des Videos verstört“, teilte von Dassel am Montag mit. In Zukunft will er für mehr Transparenz sorgen: „Das Bezirksamt wird den Einsatz von Bodycams für Beschäftigte für konflikthafte Einsätze im Außendienst prüfen.“

Eine einheitliche Linie

Von Dassel hatte zunächst behauptet, gegen die Frau auf dem Video habe ein Haftbefehl vorgelegen. Dem widersprach die Polizei. Am Dienstag sagte von Dassel der taz: „Zur Frage des Haftbefehls muss ich einräumen, dass ich hier einen großen Fehler gemacht habe.“ Er habe die Information nicht ausreichend verifiziert. So sei der Eindruck entstanden, er wolle Obdachlose bewusst kriminalisieren. „Das war nicht meine Absicht, sondern ich dachte, dies könne den Widerstand der betroffenen Frau erklären.“

Geht es nach Sozialsenatorin Breitenbach, dann soll es bald eine einheitliche Linie im Umgang mit Obdachlosencamps geben. Deswegen habe ihre Verwaltung die Sozialstadträte der Bezirke eingeladen. Als Vorbild nennt sie die Rummelsburger Bucht, wo Sozialarbeiter des Trägers Karuna gemeinsam mit Obdachlosen nach Lösungen suchen.

„Wir haben geschaut: Gibt es eine Gesprächsbereitschaft? Wie können wir den Menschen behilflich sein?“, berichtet Jörg Richert, Geschäftsführer von Karuna, von der Arbeit an der Rummelsburger Bucht. Sie hätten dicke Schlafsäcke verteilt gegen die Kälte und Öfen aufgebaut – und immer wieder mit den Leuten gesprochen. „So entstehen Beziehungen“, sagt Richert.

Manche der Obdachlosen wollten als Gruppen in eine WG ziehen, andere würden gerne raus aus der Stadt. Für alle passende Unterkünfte zu finden, sei nicht leicht, sagt Richert. „Deshalb brauchen wir Zeit.“ Es gebe die Zusage vonseiten der Behörden, das Camp bis Ende April nicht zu räumen. Ab 1. Mai muss die Fläche allerdings frei sein. Richert ist optimistisch: „Wir haben 35 Bewohner zu Beginn angetroffen. Zehn konnten bereits vermittelt werden oder haben selbst eine Lösung gefunden.“

Es braucht professionelle Sozialarbeiter

Jochen Biedermann (Grüne), Sozialstadtrat in Neukölln, begrüßt Breitenbachs Vorstoß für ein einheitliches Vorgehen. „Die Probleme enden ja nicht an den Bezirksgrenzen.“ Ehemalige Obdachlose zu beschäftigen, die zu den Menschen auf der Straße eine Beziehung entwickelten, findet er „total sinnvoll und wichtig“. Sie müssten aber von professionellen Sozialarbeitern begleitet werden.

Von Dassel, Bürgermeister Mitte

„Staatlich betreute Favelas können nicht das Ziel sein“

Die Spanne von Wohnungslosen sei sehr groß, sagt Biedermann. Den einen merke man die Obdachlosigkeit nicht mal an, andere vegetierten vor sich hin: „Wir müssen zu möglichst vielen einen Zugang bekommen.“ Dafür brauche es Leute, die sich über einen längeren Zeitraum kümmerten.

Einen Richtlinie zum einheitlichen Umgang der Bezirke mit Obdachlosencamps fordere er schon lange, so Stephan von Dassel. „Wir brauchen neue Wege, um insbesondere kranken obdachlosen Menschen den Weg in unser Hilfesystem zu erleichtern.“ Es dürfe sich aber nicht der Eindruck verfestigen, dass solche Camps ein regulärer Teil des Hilfesystems seien. „Staatlich betreute Favelas können nicht das Ziel der Sozialpolitik im Land Berlin sein.“

Plätze bleiben frei

Für Mitte komme das von der Senatorin geforderte Modell der Rummelsburger Bucht nicht in Betracht, sagte von Dassel. „Dafür sind unsere Grünflächen zu zentral.“ Angesichts der großen Zahl obdachloser Menschen sei zudem die Gefahr zu groß, dass entweder ein Riesencamp entstehe oder sehr viele kleine. Auch Gewaltvorfälle seien nicht auszuschließen, so von Dassel. Ehemalige Obdachlose stärker in die Arbeit der Träger und der Behörden einzubinden, halte er aber für sinnvoll.

Die derzeit kalten Nächte sind für Wohnungslose, die draußen schlafen, gefährlich. In der Nacht zu Sonntag starb ein Obdachloser im Humboldthain, der 55-jährige Russe wurde am Morgen auf einer Parkbank tot aufgefunden. Insgesamt stellt die Kältehilfe in diesem Winter rund 1.200 Plätze bereit.

Trotz der Minusgrade bleiben zahlreiche Betten frei. „Im Schnitt gibt es pro Nacht etwa 220 freie Schlafplätze. Wir hoffen, dass noch mehr Menschen das Angebot wahrnehmen“, sagte Regina Kneiding, Sprecherin der Sozialverwaltung.

Mit einer Schweigeminute will ein Bündnis heute um 17 Uhr am Roten Rathaus der verstorbenen Obdachlosen wie dem Mann aus dem Humboldt­hain gedenken. Eine Mahnwache ist ebenfalls geplant: Wohnungslose fordern, dass das Recht auf Wohnen im Grundgesetz verankert wird. Auch die Räumung des Camps nahe dem Hauptbahnhof soll Thema sein.

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