Nachrichten von 1914 – 12. August: „Wir müssen siegen“

„Es geht um nicht weniger als die Existenz Deutschlands. Es geht sogar um noch mehr: Siegt der Russe, siegt die Unkultur über die Kultur. Deswegen müssen wir siegen.“

Waffen für die Front. Bild: europeana1914-1918.eu, Rosa Sonnenschein; CC-BY-SA

So furchtbar ernst, ja, wenn man bloß nach der Zahl der Gegner urteilen wollte, so ungeheuer schwer war für Deutschland kaum je eine Situation. Den rund 121 Millionen Menschen Deutschlands und Österreich-Ungerns steht genau die doppelte Zahl in Russland, Frankreich, Belgien, Serbien, Montenegro und dem englischen Mutterland gegenüber. Und doch - so gewaltig die Aufgabe ist, sich dieser Übermacht zu erwehren, ihr nicht zu unterliegen - mit festem Vertrauen, man kann fast sagen: mit dem Gefühl der Sicherheit gehen Deutschland und Österreich-Ungarn in diesen gewaltigsten Völkerkampf aller Zeiten.

Wir müssen siegen, das ist die allgemeine Losung; wir müssen siegen, um unser Dasein zu erhalten. Nicht bloß die Kämpfer, auch für unser Vaterland handelt es sich um Leben oder Sterben; darum, ob wir unsere Kulturaufgaben noch im Rahmen eines selbständigen Staates erfüllen können oder bloß noch ein verstümmelter geographischer Begriff sind, über den Russland die Knute schwingt. Wir müssen siegen, wenn nicht die Kultur, der Fortschritt von Geist und Freiheit unheilbaren Schaden erleiden soll.

Siegen wir nicht, so siegt nicht England, nicht Frankreich, sondern siegen die echtrussischen Leute, die fanatischen Vertreter wüstester Reaktion, unduldsamsten Terrorismus, feiger Korruption; dann verschließt sich Russland auch für die Zukunft der Bahn des Fortschritts, dann kann es wehklagen: "Weh mir, ich hab gesiegt!" Die Niederlage, die es im japanischen Krieg erlitten, war der Anstoss zu dem Versuch, aus der alten inneren Knechtschaft heraus zu kommen. Aber das europäische Russland hatte den Schrecken der Niederlagen zu wenig am eigenen Leibe gespürt; zu fern hatten sie sich abgespielt; deshalb wurde die Reaktion wieder mächtig.

Eine gewaltige Niederlage im eigenen europäischen Land würde den Zusammenbruch des Systems nach sich ziehen, unter dem es so furchtbar gelitten hat und leidet; diese Systems, das allein die Schuld an diesem entsetzlichen Kriege trägt. Wir müssen siegen, denn solange der vom Größenwahn besessene Panslawismus dräuend sein Haupt erhebt, so lange gibt es keine Sicherheit des Friedens in Europa; so lange müssen seine Völker die Last der ständig wachsenden Rüstungen tragen, muss Europa sein führende Stellung abtreten an Amerika, das ständig an Wohlstand voraneilt, weil es diese Last nicht auf sich zu nehmen braucht. Nicht bewahrheitet hat sich das Wort, dass die Rüstungsausgaben die Versicherungsprämie seien, um den Frieden zu bewahren, dass die Bündnisse der Staaten ihn erhalten.

Aera online ist die Simulation einer Live-Berichterstattung aus dem Jahr 1914. Das Magazin veröffentlicht Nachrichten, die auf den Tag genau vor hundert Jahren von den Menschen in Deutschland in ihren Zeitungen gelesen wurden. Drei historische Zeitungen wurden aus den Archiven gehoben und ausgewertet. Die Texte sind im Wortlaut erhalten, Überschriften und Kurz-Zusammenfassungen wurden teilweise modernen Lesegewohnheiten angepasst.

Das Projekt ist eine Kooperation der zero one film und der Leuphana Universität Lüneburg. taz.de kooperiert mit dem Magazin und veröffentlicht jeden Tag ausgewählte Nachrichten von 1914. Das gesamte aera online Magazin finden Sie hier.

Ein unentrinnbares Verhängnis zwingt friedliebende Völker, wie das deutsche und das französische, zu diesem Kriege, den zu vermeiden, beide eifrig bestrebt waren. Hatte doch Frankreich durch seine letzten Wahlen bewiesen, dass es ernstlich den Frieden wolle. So sehr man das französische Volk bedauern kann, so unbedingt müssen wir siegen, denn es kämpft leider für die Unkultur gegen die Kultur, für die Reaktion gegen den Fortschritt, für die Knechtschaft gegen die Freiheit, für die Herrschaft der Knute gegen die von Gesetz und Ordnung. An der Tatsache, dass die Elsass-Lothringer sich willig in die Reihen unserer Kämpfer stellen, muss Frankreich sehen, dass sie gar nicht den Wunsch haben, wieder Franzosen zu werden, dass damit auch der Schein der "moralischen Verpflichtung" entfällt, die "gefangenen Brüder" zu befreien.

Dieser Krieg, in dem wir, wenn wir auch noch so siegreich sind, nicht einen Fußbreit französischen oder sonstigen Bodens und aneignen werden, muss den Franzosen die Überzeugung bringen, dass es von Deutschland nichts zu fürchten hat; dass es keine Bündnisse braucht, sich vor ihm zu schützen. Und wie mit dem Krieg von 1866 der Gegensatz zwischen Österreich und Preußen aufgehört hat, so möge aus der blutigen Saat dieses Krieges ein vertrauenvolles, friedliches Verhältnis zwischen den beiden Völkern erwachsen, die für den Fortschritt der Menschheit, jedes in seiner Art, so viel geleistet haben! Wir müssen siegen, um dem sittlichen Bewusstsein in der Welt zum Siege zu verhelfen, das schwer erschüttert würde, wenn die russische Frivolität und Kriegshetze triumphierte.

Es ist für das deutsche Volk hart, einen Krieg führen zu müssen, der ihm auch im Fall des glänzendsten Sieges nur das bringt, was wir vor ihm besaßen. Wir wünschen keine Vermehrung von Land und Leuten, ja wir würden es als ein Unglück erachten, wenn wir mehr fremdsprachige Bürger bekämen. Wir geizen weder nach kriegerischem Ruhm, noch danach, der Welt Gesetze zu diktieren. Wir wollen in Frieden unserer Arbeit nachgehen; nur zur Verteidigung ergreifen wir die Waffen, zur Erhaltung unserer Selbstständigkeit, unserer Kultur, unserer Ehre. Und wir werden siegen, denn das ganze deutsch Volk, vom ersten bis zum letzten, ist fest davon durchdrungen, dass wir siegen müssen.

Wir werden siegen - trotz der Minderzahl - nicht weil wir, soweit es das Landheer angeht, unseren Gegner technisch überlegen sind, so wenig man die Straffheit der Organisation, die Güte der Massen, das Maß der Ausbildung unterschätzen soll. All das wird helfen. Aber die Hauptsache ist doch der Geist, in dem wir kämpfen, und der unseren Gegnern fehlt. Man höre nur von Augenzeugen, wie es in Russland auszieht, wo die unglücklichen zu den Waffen Gerufenen im Branntwein Trost für ihr trauriges Geschick suchen, wo der Feuerschein brennender Gebäude die schreckhaften Nächte durchleuchtet! Wie in Polen der Aufruhr jeden Tag zu hellen Flammen aufzuschlagen droht, wie die gleiche Stimmung in Finnland herrscht!

Wie die Arbeiterschaft der großen Städte und der freilich wenigen Industriebezirke nur durch Bajonette niedergehalten wird! Und in Frankreich! Was gäbe man dort darum wenn man nicht zu beachten brauchte! Nicht aus eigener Kraft hofft man zu siegen, sondern man vertraut auf die Hilfe der Bundesgenossen, des 133 Millionen Reiches Russland, das man im tiefsten Innern doch als Land der Barbarei verachtet. Und nach dem sensationellen Bericht des Senators Humbert hat man kein Vertrauen zur Güte der eigenen Waffen. Wohl wird es auch dort an Kampfesmut nicht fehlen, den Einfall des Gegners abzuwehren. Aber die Begeisterung fehlt für einen Krieg, den das Volk nicht gewollt hat.

Und England! Der Krieg ist dort keine Sache des Herzens, sondern eine des Geschäfts Sir Edward Greys, der hofft, die deutsche Flotte zu vernichten und vielleicht einige unserer Kolonien einzustecken. Die besten Männer des Kabinetts, ein Morley, ein Burns, sind scham- und schmerzerfüllt aus ihm ausgeschieden: die Arbeiterpartei hat entrüstet gegen den Krieg protestiert, die schämen sich, Deutschland in seinem ihm aufgedrungenen Abwehrkampf in den Rücken zu fallen, sie schämen sich, in dem Kampf zwischen Kultur und Unkultur auf der Seite der Barbaren zu stehen. Bei uns dagegen in Volk, vom ersten bis zum letzten geeint und entschlossen, das Vaterland zu verteidigen, es zu retten. Bei der Jugend eine Begeisterung, die den Tod nichts achtet.

Kein schönerer Tod in der weiten Welt, Als wie vor'm Feind zu sterben. Bei den Familienvätern das Gefühl, das ein vierzigjähriger Mann, dessen Frau unmittelbar vor der Entbindung steht, in die Worte fasste: "Es wird mir schwer, Frau und Kinder gerade jetzt zu verlassen, aber ehe die Bande bei uns einbricht, nehme ich doch gern das Gewehr in die Hand." Diese Stimmung beseelte auch den Reichstag, vergessen aller Parteizwist, ein einig Volk von Brüdern; kein Sozi, kein Pole, kein Elsass-Lothringer, geschweige denn Däne versagte, in dieser schweren Zeit eint die Not des Vaterlandes alle, ist alle Unbill vergessen und diese Einigkeit Deutschlands hat zurückgewirkt aus Österreich-Ungarn.

Was kein Mensch für möglich hielt: die Tschechen rufen: Hoch den Deutschen! Die Deutschen: Razdar hoch! den Tschechen. Die große Schicksalsstunde siegt über den Nationalitätenhader. Nur noch der edle Wettstreit, in der Hingabe ans Vaterland nicht hinter dem anderen zurückzustehen.

Und deshalb: Wir müssen siegen, wir werden siegen.

Das ist nicht Wollen nur und Drang,

Das ist ein Müssen, ist ein Zwang.

Quelle: Berliner Tageblatt

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