Netzaktivisten in Suizidgefahr: Noch schnell die Passwörter übergeben

Aktivismus kann zum Burnout führen: Der Piratenpolitiker Stephan Urbach wollte letzes Jahr Selbstmord begehen. Und er ist kein Einzelfall.

Es ist immer okay, um Hilfe zu bitten. Bild: kaktus66 / photocase.com

BERLIN taz | Sich auf eine Bühne zu stellen und über die eigenen Suizidpläne zu reden – das erfordert schon ziemlich viel Mut. Aber Stephan Urbach hat sich dafür entschieden, darüber zu reden.

Darüber, wie er, der Internetaktivist der Hacker-Gruppe Telecomix, sich immer in der heißen Phase des arabischen Frühlings immer tiefer in sein Aktivistendasein verstrickt hatte, bis zu 30 Stunden am Stück wach blieb, um die Aktivisten in Syrien und anderswo zu unterstützen.

Wie er seinen Job verlor und seinen Lebensrhytmus, wie ihm alles zu viel wurde, er das Gefühl hatte, sich selbst verloren zu haben – und wie er beschloss, sich das Leben zu nehmen. Auf dem Sommercamp des Chaos Computer Clubs. Und hat sich nur kurzfristig dagegen entschieden.

All das erzählt Urbach auf der Re:Publica-Bühne ruhig und gefasst, während auf dem Bildschirm im Hintergrund ein Lagerfeuer prasselt. „Ich muss etwas gestehen. Etwas ziemlich Persönliches. Ich wollte sterben“, schrieb Urbach wenige Tage nach dem von ihm geplanten Freitod. Darüber, wie er schon alles geplant hatte – die Übergabe von Passwörtern, wie er es machen wollte. Darüber, wie schlecht er damit zurechtkam mit der Unwissenheit, wenn Aktivisten aus Syrien oder anderswo, mit denen er in engem digitalen Kontakt stand, sich einfach plötzlich nicht mehr meldeten.

Der letzte Sommer, das scheint jetzt irgendwie irrsinnig lange her – inzwischen hat Urbach bei Telecomix aufgehört und statt dessen einen Job bei der Berliner Piratenpartei angenommen, taucht mit seinem meist bunt gefärbten Iro regelmäßig im Fernsehen oder Zeitschriften auf – fast schon eine Art Posterboy der Piraten und der Internetaktivisten.

Aber eben auch einer, dem es nach seinen Erfahrungen vom vergangenen Sommer ein Anliegen ist, offen zu thematisieren, dass Hacken, Aktivismus und Depression für viele zusammenhängen. Der jetzt von der Bühne predigt, sie seien eben Leute, keine Problemlösungsmaschinen. Der erzählt, wie es ihn gerettet hat, dass er im Sommer auf dem Chaos Communication Camp festgestellt habe, dass er mit seinem Problem nicht allein ist, dass es einigen Mitstreitern ähnlich geht, dass Freunde dort ihm signalisierten, es sei OK, um Hilfe zu bitten.

Alles andere als ein Einzelfall

Und tatsächlich ist Urbach alles andere als ein Einzelfall. Spricht man viel und häufig mit Aktivisten und anderen Hyperaktiven aus dem Netz, dann kommen die Themen Depression und Überforderung schnell auf. Gerade Leute, die sich mit voller Wucht dem digitalen Kampf für oder gegen etwas verschreiben, gerne als Einzelkämpfer oder als kleine Gruppe mit einem unendlich großen Berg an Aufgaben und mächtigen Gegnern, scheinen dafür anfällig zu sein – ein Thema, das auf Seiten wie bluehackers.org thematisiert wird, so wie Urbach es inzwischen immer häufiger auf Konferenzen thematisiert – und Gegenstrategien aufzeigt – für den Einzelnen, aber auch für Netzaktivistengruppen.

Auch die Forscherin und Journalistin Anwen Roberts kennt so eine Geschichte. Für einen kurzen Moment scheint ihr die Stimme zu brechen, wenn sie von „oneup“ erzählt, einem österreichischen Geek, der unter anderem die dortige Piratenpartei mitgründete, und sich 2009 umbrachte. Häufig, sagt Roberts, sind gerade die Leute gefährdet, von denen man es am wenigsten erwartet. Leute wie „oneup“.

Die sehr viel softeren Variante digitaler Überforderung thematisierte früher am Donnerstag Bruno Kollhorst, Leiter der Abteilung Social Media in der Techniker Krankenkasse. Seinen Vortrag mit dem etwas holprigen Titel „Social Müdia? Vom Umgang mit dem Information Overflow“ ist so gut besucht, dass viele Zuhörer akustisch kaum noch verstehen dürften, was Kollhorst über die Tücken ständiger Erreichbarkeit erzählt, über eine Tagung, auf der er unter anderem mit dem Google-Pressesprecher Steffen Keuchel darüber reflektiert hat, wie man als digital Überaktiver auch einmal abschaltet.

Abschalten – eine Fähigkeit, die tatsächlich zu beherrschen immer wichtiger wird, in Zeiten, in denen die Arbeit digitaler Aktivisten immer wichtiger und umfangreicher wird, in der Unabgeschlossenheit ganz selbstverständlich zum Workflow gehört und in der die Informationsströme im Netz niemals abreissen wichtiger scheint denn je.

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