Netzkommentare zu Gauck: "Gibt es einen Gegenkandidaten?"

Die ganz große Koalition hat den nächsten Bundespräsidenten gefunden, ein Märchen droht zur Realität zu werden. Damit ist längst nicht jeder einverstanden.

Die große Einigkeit. Und im Netz meckern sie schon wieder. Bild: dpa

BERLIN taz | Stammte der Stoff aus einem Drehbuch, die Filmkritik wäre entsetzt. Eine Frau weiß nicht, was gut für sie ist. Der Mann, der so drängend um sie wirbt und der am besten zu ihr passt, erhält einen Korb. Ein anderer, den die Zuschauer schnell als windigen Charakter ausgemacht haben, tritt an seine Stelle.

Doch dank der unermüdlichen Aufklärung von guten Freunden der Frau – einem Chefredakteur und einem Staatsanwalt – stellt sich heraus, dass er der Falsche ist. Die Frau erkennt ihren Fehler, der Schaumschläger tritt ab, die wahre Liebe kann sich frei entfalten, Happy End! "Zu oft gesehen", "viel zu viele Klischees", "so ist das wahre Leben nicht", schreien die Filmkritiker und liegen, wie so oft, falsch.

Die Republik wendet sich von Christian Wulff ab und dem wackeren Joachim Gauck zu, der sofort zur Rettung eilt – ungekämmt, ungewaschen, verwirrt. Das "wahre Leben" belohnt Treue und Beharrlichkeit selbst in den Niederungen der Politik. Im Jahr 2012 wird in Deutschland ein kitschiges Märchen erzählt und so mancher wischt sich die Tränen aus den Augenwinkeln.

Begeisterung auch im Netz

Auch online ist die Zeit der großen Gefühle ausgebrochen: "Vom Pfarrer zum Präsidenten. Man könnte es nicht besser inszenieren! #Gauck", schreibt Paul Feher, @neo2freaks, im Netzwerk Twitter. "Die genialste Szene des gestrigens Abends war doch, wie das Taxi (ein schmutziger VW Caddy) Joachim #Gauck vor dem Kanzleramt ablieferte", meint Claus Junghans (@kritikkultur).

Zu allerhöchsten Weihen greift Zeltmacher (@im_Vorzelt), ein christlicher "Internetdienst (...) für engagierte Christen: "#Wulff #Gauck 'Ist ein Land frevelhaft, so erlebt es häufigen Fürstenwechsel.' - Die Bibel, Sprüche 28,2". Auf der Facebook-Seite "Joachim Gauck als Bundespräsident" schreibt Christoph Giesa: "Der Tag danach... ohne die Macht der Bürger wäre Gauck jetzt nicht nominiert. Wir dürfen uns freuen und müssen kritisch bleiben. Vor allem aber sollten wir den eingeschlagenen Weg weiter gehen..."

Eher nüchtern berlinert Jan Kellermann (@klrmnn): "Ditte hätten wa vor anderthalb Jahren ja och eenfacher und billijer haben können!" Selbst die FDP erinnert sich plötzlich, dass sie in der Vergangenheit auch mal was richtig gemacht hat: "Wir begrüßen die Nominierung von #Gauck. Die damalige FDP-Fraktion in Bremen hatte sich schon bei der letzten Wahl für ihn ausgesprochen", twittert die @FDPBremen.

Und was sagt Joachim Gauck selbst, immerhin "seit 2010 Twitterpräsident"? Gleich dreimal meldete er sich am Sonntag über seinen Fake-Account zu Wort, teils euphorisch: "Hallelujah! Habemus Gauck", teils verwirrt: "Hallo? Hallo? Bin ich denn jetzt schon gewählt? Ist da wer?", teils souverän-staatstragend: "Die FDP verdient Respekt dafür, mich zu unterstützen. Sie ist die letzte Partei, die den Willen des Volkes verteidigt."

Nur Gejubel? Von wegen!

Wo im parlamentarischen Bertrieb allein die Linkspartei aus der ganz großen Gauck-Koalition ausschert, ist die Kritik am nächsten Bundespräsidenten im Netz weiter verbreitet. Vera Bunse, "Opalkatze", bloggt: Vor der Bundespräsidentenwahl am 30. Juni 2010 habe ich die Wahl Joachim Gaucks klar unterstützt (...). Meine Begeisterung ist längst nicht mehr so groß (...). Auch wenn die Occupy-Bewegung möglicherweise ein wenig romantisch ist, kann man sie nicht einfach als albern bezeichnen. Die Verfolgung von Zielen, die wieder zu einer solidarischen Gesellschaft führen, mag in Zeiten wie diesen blauäugig scheinen, gerade ein Kirchenmann sollte das aber verstehen und unterstützen. Auch die Bezeichnung Thilo Sarrazins als mutig war unpassend (...). Und Hartz IV kann man nur befürworten, wenn man vom gemeinen Volk sehr weit entfernt ist."

Auch Julia Seeliger, einst taz, nun FAZ, meint, Gaucks Interpretation der Begriffe "Stolz", "Patriotismus" und "Heimat" seien gewiss eine kritische Debatte wert: "Vielleicht kann man mit Herrn Gauck über diese Begrifflichkeiten ins Gespräch kommen. Das könnte interessant werden."

An einem ganz anderen Aspekt stört sich das Weblog Feynsinn: "Was da im Gespräch ist als Darsteller eines Staatsoberhauptes, ist eine Frechheit: Pfarrer Huber, Pfarrer Gauck, Christenfunktionärin Göring-Eckardt? (...) Sie vertreten neoliberale Parteien, Vereinigungen und Ansichten in einer christlich verquasten Leistungsethik, die keine Probleme hat mit der Diskriminierung der Verlierer im 'Wettbewerb' oder der Befürwortung von Kriegen. (...) Hier sind die Kirchen fest in ihrer Tradition verankert. Nachher waren sie eh immer bei den Guten."

Vielen Piraten missfällt, dass sich Gauck für die Vorratsdatenspeicherung ausgesprochen habe, ein Piratenpad sammelt Beiträge zu diesem Kritikpunkt und zu zahlreichen anderen. Das Ostblog verweist trocken auf die wohlwollende Reaktion der rechten Wochenzeitung Junge Freiheit.

"Seinen Posten räumen"

Noch nicht im Amt, haben einige an den Politikerstürzen der jüngeren Vergangenheit so sehr ihren Spaß gefunden, dass sie gleich weitermachen wollen. Ganz vorneweg eilt wie üblich das Satire-Magazin Titanic: "Experten vermuten, dass die Kanzlerin Gauck vor allem als Übergangskandidaten sieht. Sie verweisen darauf, dass Merkel ihm bereits ihr volles Vertrauen ausgesprochen hat. Üblicherweise muss ein Politiker zwei bis vier Wochen nach so einer Erklärung seinen Posten räumen."

Das linke Aktivisten-Portal Indymedia listet schlicht Zitate auf, die gegen Gauck sprechen sollen und unterlegt sie teilweise mit Links. Weniger radikal, aber umso entwaffnender fragt Jule (@Ein Augenschmaus): "Gibt es eigentlich einen Gegenkandidaten zu #Gauck? Damit die Bundesversammlung eine echte Wahl hat, wen sie wählen dürfen. #Demokratie".

Hat sich die Frau aus dem Drehbuch also wieder für den falschen Mann entschieden? Wartet im Hintergrund noch ihr wahrer Kandidat der Herzen? Ach was, meint man im Netz, die Frau von heute braucht schlicht und einfach keinen Mann.

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