Netzphilosoph zum Informationsüberfluss: „Netzwerke wissen es besser“

Im Internet sind viel mehr Informationen als ein einzelner Mensch erfassen kann. Das macht uns schlauer als jemals zuvor, sagt der US-Netzphilosoph David Weinberger.

Zu viel Input: Es stehen unfassbar große Mengen Information zur Verfügung. Bild: .marqs/photocase.com

taz: Herr Weinberger, Sie reden von einer Krise des Wissens. Und doch stellt das Internet so viel Wissen zur Verfügung wie niemals zuvor. Warum macht es uns dann nicht auch schlauer?

David Weinberger: Es macht uns schlauer. Aber ich glaube, wir leben eben auch in einer der großartigsten Epochen der Geschichte, um dumm zu sein. Das Internet ist ein fantastisches, noch nie da gewesenes Werkzeug für den Erwerb von Wissen. Doch Wissen hat sich durch das Internet verändert – so sehr, dass unsere alten Wissensinstitutionen …

also zum Beispiel Universitäten und Forschungsinstitute …

… dass die einfach nicht mehr wissen, was sie damit anfangen sollen. Sie sind sehr schlecht darauf vorbereitet, mit dem Internet klarzukommen. Das ist die Krise, in der wir stecken.

Warum hadern alte Wissensinstitutionen damit?

Weil internetbasiertes Wissen so anders ist. Wissen war früher eine kleine Menge von Ideen, die als wahr galten und an die zu glauben als gerechtfertigt galt. In unserer westlichen Kultur war Wissen immer etwas, das gefiltert wurde. Das ist keine Eigenschaft des Wissens, sondern eine Eigenschaft des Mediums, auf dem Wissen traditionellerweise veröffentlicht wurde – Papier. Auf Papier konnten wir nur wenige Ideen publizieren, schon allein, weil der Platz in Bibliotheken und auf unseren Bücherregalen begrenzt ist.

Jahrgang 1950, ist Netzphilosoph und Autor. Er schrieb im Jahr 1999 am „Cluetrain Manifesto“ mit, einer bahnbrechenden Sammlung von Thesen über das Verhältnis von Märkten und Kunden im Internetzeitalter.

Der ehemalige Journalist und Comedy-Autor forscht am Berkman Center for Internet and Society an der Harvard-Universität zu netzphilosophischen Fragen. Über die Frage, wie das Internet zwischenmenschliche Beziehungen, Kommunikation und Gesellschaft verändert, hat Weinberger mehrere Bücher geschrieben. Im Frühjahr 2012 erschien sein jüngstes Werk „Too big to know“.

Jetzt steht uns mit dem Internet ein Medium mit unbegrenzter Kapazität zur Verfügung. Und das allein verändert das Wissen massiv. Es wird nicht mehr nur herausgefiltert und veröffentlicht, was als bekannt und gesichert gilt, sondern man hat ein Medium, das in seinem Platz unbegrenzt ist und das über Hyperlinks Informationen verkettet.

Und wie genau ändert sich Ihrer Ansicht nach das Wissen durch das Netz?

Im Internet lernt man, dass alles, was jemand glaubt, von jemand anderem angezweifelt werden kann. Das zu wissen, ist wirklich wichtig. Alles ist diskutabel. Wissen im Internetzeitalter ähnelt dem Wissen, wie es sich in den vergangenen hundert Jahren für Forscher schon immer dargestellt hat: Es gibt eine Hypothese, an die geglaubt und auf die reagiert wird – aber man ist sich bewusst, dass man sich irren kann.

Wissen im Internetzeitalter besteht nicht aus einem Set an Fakten, die wie Ziegelsteine hingelegt werden, und wir können daraus eine Mauer hochziehen. Es ist ein Set von Links, von Verbindungen, das nur verknüpft einen Sinn ergibt – es ist viel kontextualisierter. All diese Links reflektieren die menschliche Natur viel besser als unsere alte Idee vom Wissen.

Einen gesicherten Stand der Forschung, einen Kanon, auf den wir uns alle einigen können, gibt es Ihrer Ansicht nach gar nicht? Oder nicht mehr?

Dass alle rationalen, vernünftigen Menschen sich eine Beweiskette anschauen, sich auf Rückschlüsse einigen und wir in Frieden und Harmonie zusammenleben – das ist eine zauberhafte Idee. Aber eine falsche, wie wir im Internetzeitalter erkennen können. Wir haben jetzt empirisch herausgefunden, dass mehr Wissen, mehr Informationen nicht dazu führen, dass wir uns einig sind. Im Gegenteil. Es entstehen Debatten. Und jetzt müssen wir herausfinden, welche Vorteile wir aus diesem Dissens ziehen können.

Klingt ziemlich utopisch. Welchen Sinn ergibt es denn, sich mit einem Kreationisten über Evolution auseinanderzusetzen – dem geht es doch um Glaubensfragen, nicht um einen deliberativen Prozess!

Bertrand Russel hat mal gesagt, dass man niemanden aus einer Position herausargumentiert bekommt, der nicht dort hineinargumentiert wurde. Wenn man also einen Kreationisten vor sich hat, der seine Überzeugung als Glaubensfrage betrachtet, kann man ihn nicht mit Argumenten davon überzeugen, dass er falsch liegt. Aber tatsächlich gehen Glaubensfragen weit darüber hinaus: Viele Dinge, die wir zu wissen meinen, glauben wir einfach. So sieht die Welt für uns aus. Das Framing, der Kontext ist zuerst da. Das war schon immer so – aber früher waren wir besser in der Lage, Stimmen, die unseren Ansichten widersprochen haben, zu marginalisieren.

Das Internet versetzt Leute nun in die Lage, jederzeit andere Menschen zu finden, mit denen sie ihre krude Weltsicht teilen können. Dadurch werden sie in ihren Ansichten bestärkt und radikalisieren sich. Gleichzeitig hat das Internet eine lange Geschichte von Werkzeugen und Techniken, wie man einen fruchtbareren Diskurs führen kann. Und wie man auch bessere Filter entwickelt, um mit Überfluss an Informationen klarzukommen.

Aber im Netz wird sich doch viel mehr beschimpft als fruchtbar diskutiert!

Wir werden sicher niemals perfekt werden darin, offen für andere Positionen zu sein. Das ist kein menschlicher Fehler, sondern die Voraussetzung dafür, Verständnis für etwas zu entwickeln: Man hat einen Kontext von Glaubenssätzen, in den man neue Ideen einfügen kann. Darum benötigt Verständnis ein gewisses Maß an Engstirnigkeit. Trotzdem gibt es im Netz viele Hoffnungsschimmer – gute Diskussionsthreads oder Blogs, in denen Leute dann eben doch zu einer gemeinsamen Ansicht kommen oder jedenfalls zivilisiert streiten.

Im Grunde geht es beim Thema Wissen im Internetzeitalter ja auch um Machtfragen, um Deutungshoheit. Verschieben sich alte Machtstrukturen gerade?

Die alte Idee von intellektueller Führerschaft befindet sich auf dem absteigenden Ast. Dass es Expertenzentren gibt, die Wissen authentifizieren, und dass alles, was durch diese Filter zu uns vordringt, etwas ist, woran wir glauben sollten – diese Idee wird gerade einer radikalen Revision unterzogen.

Denken Sie, man kann diese Beobachtung auch auf andere Bereiche übertragen? Von der Occupy-Bewegung bis zu Anonymous sehen wir ja überall Dezentralisierungstendenzen.

Für mich ist die grundlegende Lehre, die man aus den Entwicklungen im Netz ziehen kann, dass Führerschaft nicht sonderlich gut skalierbar ist.

Was heißt das? Dass sie mit schneller Vergrößerung nicht gut klarkommt?

Das Internet konnte so groß werden, gerade weil es keine Führungsebene gibt – und nicht obwohl es keine gibt. Es gibt kein Management, das jemals darüber entschieden hätte, ob ein bestimmter Post erlaubt ist oder nicht. Welche Adresse jemand haben sollte und so weiter. Das Internet hat kein Zentrum – und darum konnte es so schnell wachsen.

Die Occupy-Bewegung ist von Anfang an offensiv damit umgegangen, keine fertigen Lösungen für die Finanzkrise parat zu haben. Ist das auch eine Auswirkung von Überforderung durch Information – diesmal in der Offlinewelt?

Das ist einerseits eine Variante, auf Informationsüberfluss zu reagieren – und andererseits ein realistischerer Zugang zu der menschlichen Kapazität, Dinge zu wissen. Es brauchte eigentlich gar nicht den Informationsüberfluss, den wir aktuell haben, um zu wissen, dass unser Kilo Gehirnmasse nicht in der Lage ist, die Welt und so komplexe Situationen wie die Bankenkrise zu erfassen. In gewisser Hinsicht wissen Netzwerke es besser als Individuen. Sie sind in der Lage, extrem groß zu werden und gigantische Mengen an Informationen aufzunehmen, statt sie, wie Individuen, ab einem bestimmten Punkt auszufiltern, um damit fertig zu werden.

Wie könnte sich das auf politische und wirtschaftliche Führer in der Offlinewelt auswirken – auf ihre Wahrnehmung der Rolle?

Es ist schwer zu wissen, was passiert, wenn Onlinewelt und die Offlinewelt sich kreuzen. Hierarchien funktionieren in Netzwerken nicht sonderlich gut. Darum scheitern Unternehmen ja auch immer, wenn es darum geht, wie sie mit Sozialen Medien umgehen: Sie fühlen sich häufig unwohl damit, dass ein Individuum für das Unternehmen spricht. Wenn das zum Beispiel jemand aus der Kundenbetreuung macht – auch wenn er am besten für diese Aufgabe geeignet ist –, ist das der Chefetage oft nicht geheuer, einfach weil er nicht am richtigen Punkt ihrer organisatorischen Hierarchie steht.

Viele Daten und viel Austausch werden auf den Seiten großer profitorientierter Unternehmen wie Google oder Facebook gepostet oder gespeichert. Macht sie dieses Wissen übermächtig?

Diejenigen, denen wichtige Daten, wichtiges Wissen gehört, sind in einer Position großer kultureller Bedeutung – und manchmal auch großer ökonomischer Bedeutung. Und sie können böse sein. Darüber sollte man sich Sorgen machen.

Inwiefern?

Als die Zeit gekommen war, dass man im Internet besser mit Dokumenten oder Seiten umgehen konnte, kam Tim Berners Lee und erfand das World Wide Web. Das hat er uns zur Verfügung gestellt – kostenlos. Ohne Copyright, ohne Eigentümerschaft. Dank dieser offenen Protokolle ist das Netz wie verrückt gewachsen. Wenn Sie etwas ins Netz stellen, dann gehört das niemandem. Das ist brillant. Aber als es darum ging, mehr über Menschen und ihre Verbindungen herauszufinden, haben wir einen fürchterlichen Fehler gemacht. Wir hatten damals keinen Tim Berners Lee, wir hatten eine Handvoll Unternehmen. Und ein unglaublich wertvolles System privater Beziehungen gehört heute einer Firma, die kommerzielle Interessen hat. Das ist potenziell ein Desaster.

Finden Sie das nicht auch aus Datenschutzperspektive gruselig?

Ich weiß, ich bin in dieser Frage naiv. Ich mache mir weniger Sorgen um die Privatsphären als die meisten anderen Menschen. Mir ist es egal, was Computer über mich wissen – solange die Eigentümer dieser Information damit nichts tun, das ich nicht mag.

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