Neuer NSU-Untersuchungsausschuss: Die Puzzleteile passen nicht

Er war Polizist und machte im Sicherheitsapparat Karriere. Nun soll Clemens Binninger das Versagen im NSU-Komplex aufklären.

Clemens Binninger unterhält sich.

Clemens Binninger vertraut dem Sicherheitsapparat. Eigentlich. Er gehört ja dazu Foto: dpa

Es sprach nicht viel dafür, dass Clemens Binninger hier sitzen würde. Raum 2.732 im Bundestag, goldverzierte Decke, Pressekonferenz am Freitagmittag, eng an eng sitzen die Journalisten. Binninger, mit akkuratem Seitenscheitel und randloser Brille, ergreift das Wort, mit ernstem Blick. „Wir können uns nicht leisten, bei dieser Mordserie so viele offene Fragen mit in die Zukunft zu nehmen. Jetzt haben wir noch die Zeit und Gelegenheit, möglichst viele davon zu klären.“

Neben Binninger sitzen Innenexperten der SPD, der Grünen und Linken. Gemeinsam verkünden sie: Der Bundestag wird einen zweiten NSU-Untersuchungsausschuss bekommen, um diese Fragen zu klären. Im November geht es los. Schon zuvor vereinbarten sie: Clemens Binninger soll dessen Vorsitzender werden.

Ausgerechnet Binninger. Der konservative CDU-Innenpolitiker aus Baden-Württemberg, der frühere Polizist, der im Sicherheitsapparat Karriere machte, und der noch vor wenigen Monaten sagte, es fehlten „neue Indizien“ für einen zweiten Ausschuss, er also wird jetzt oberster Aufklärer des Versagens der Behörde im NSU-Komplex. Kann das funktionieren?

Binninger war schon beim ersten Ausschuss dabei. Er war Obmann der Union, er schrieb an dem 1.357 Seiten starken Abschlussbericht mit. Der attestierte den Sicherheitsbehörden „massive Versäumnisse und Fehleinschätzungen“. Sätze, die Binninger nicht leicht fielen. Denn er vertraut dem Sicherheitsapparat. Eigentlich. Er gehört ja dazu.

Eine steile Karriere

Als er 15 Jahre alt war, wurde Generalbundesanwalt Siegfried Buback in Karlsruhe ermordet, in Binningers Bundesland Baden-Württemberg. Er wuchs auf, während die Sicherheitsbehörden die RAF jagten. Und er wurde 1979 selbst Streifenpolizist in Freiburg. Später bewachte er das Haus des Buback-Nachfolgers Kurt Rebmann.

Der Mord an Michèle Kiesewetter? Ein Zufallsopfer, sagen die Ermittler. Binninger will an Zufälle glauben, aber die Puzzleteile passen nicht

Schritt für Schritt drängte Binninger nach oben. Kriminalkommissar, Referent im Innenministerium Baden-Württemberg, seit 2002 im Bundestag. Dort ist er heute einer der führenden Innenexperten der Union. Kein Mann der lauten Thesen, eher ein ausgewiesener Fachpolitiker, immer diplomatisch, ausgesprochen höflich.

Inzwischen sitzt Binninger im Parlamentarischen Kontrollgremium – wo ihm die Präsidenten von Verfassungsschutz und BND Rechenschaft ablegen müssen. Im vergangenen Jahr wurde er gar als neuer Präsident des Bundeskriminalamtes gehandelt. Ein stiller Aufstieg, ein steiler.

Noch zu Beginn des ersten NSU-Ausschusses sagte Binninger, die Konsequenz aus der Mordserie müsse ein besserer Austausch zwischen den Sicherheitsbehörden sein, es brauche längere Speicherfristen für Polizeidaten. Das Versagen im Fall NSU: alles nur ein Organisationsdefizit.

Das Puzzle passt nicht

Binninger sieht die Dinge gern technisch. Als Polizist war er mal bei Kollegen in New York und ließ sich deren „Zero Tolerance“-Konzept erklären. Ihn begeisterte vor allem der Einsatz von Polizeistatistik: Tagesaktuelle Zahlen von Delikten und Verhaftungen flimmerten über die Monitore, Ermittlungsschwächen wurden sofort offengelegt. Die Statistik sei „das eigentliche Geheimnis des Erfolgs der New Yorker Polizei“, schrieb Binninger nach seinem Besuch in einem Bericht. „Was zählt, sind alleine harte Fakten.“

Für Binninger funktionierte das über Jahre: harte Fakten. Man muss die Puzzleteile nur aneinanderlegen, dann löst sich der Fall. Dann aber tat sich mit dem NSU fast direkt vor seiner Haustür ein Rätsel auf. Die Rechtsterroristen erschossen 2007 in Heilbronn nach neun Morden an Migranten eine Kollegin, die Polizistin Michèle Kiesewetter. Ein Kopfschuss während der Dienstpause, mitten am Tag. Ein Zufallsopfer, sagen die Ermittler, getötet von Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt.

Ein junger Mann aus Spandau kommt vor Gericht wegen Hanfanbaus. In Kreuzberg denkt man derweil über die Eröffnung von Coffeeshops nach. Ist das Cannabis-Verbot noch zeitgemäß? Oder wächst es uns über den Kopf? Die Titelgeschichte „Voll Gras!“ lesen Sie in der taz.am wochenende vom 17./18. Oktober. Außerdem: Zwei Brüder, zwei Reisen. Einer kam Ende der Sechziger aus Syrien nach Frankfurt, der andere vor einem Jahr. Jetzt sind sie wieder vereint. Und: Freilerner sind Kinder, die zu Hause unterrichtet werden. Mit den Behörden geraten sie regelmäßig in Konflikt – wegen der Schulpflicht. Zu Gast in einer WG. Das alles gibt es am Kiosk, eKiosk oder im praktischen Wochenendabo.

Das Opfer kam aus Thüringen, der Heimat des Nationalsozialistischen Untergrunds, der Onkel der Polizistin ermittelte lange in der dortigen Neonaziszene. Und als sie kurz vor dem Mord ihre Dienstschicht verschob, verlängerten auch Mundlos und Böhnhardt die Ausleihe ihres Tatfahrzeugs, ein Wohnmobil. Kann das alles Zufall sein? Zudem sahen Zeugen mehr als zwei Täter, keiner soll ausgesehen haben wie Mundlos und Böhnhardt.

Binninger will an Zufälle glauben, aber die Puzzleteile passen nicht. Inzwischen spricht er es offen aus: „Kiesewetter war kein Zufallsopfer.“ Auch müsse der NSU in Heilbronn Helfer gehabt haben. Ermittler, Sicherheitsbehörden und Innenminister widersprechen dem. Binninger hat den Konsens verlassen.

Offene Fragen klären

Am Tag vor der Pressekonferenz sitzt er im Restaurant des Bundestags. Den bestellten Cappuccino lässt er kalt werden. Binninger hat eigentlich keine Zeit. Die Kanzlerin spricht gleich nebenan im Plenum, als Innenexperte soll er den neusten BND-Skandal kommentieren. Clemens Binninger lässt sich die Hektik nicht anmerken, er spricht ruhig, gedämpft.

Man habe versucht, nach dem ersten Ausschuss die offenen Fragen im Innenausschuss zu klären. Mit begrenztem Erfolg. Deshalb habe auch er für den zweiten Ausschuss geworben.

Die Geschichte von Clemens Binninger ist auch die einer Wandlung. Er, der korrekte, treue Expolizist wird für die Sicherheitsbehörden plötzlich unberechenbar.

Wann hat es begonnen, das Misstrauen, auch gegen die ehemaligen Kollegen? Binninger kann keinen Moment benennen. Die Zweifel wuchsen langsam.

Zu früh festgelegt

13 Jahre lebte der NSU im Untergrund – und kein Neonazi wusste von dessen Taten? Kein einziger V-Mann kannte den Unterschlupf, obwohl dieser kaum versteckt in Sachsen lag und ein Spitzel jahrelang nur wenige Straßen weiter wohnte? „Kann das wirklich sein?“, fragt Binninger im Bundestagsrestaurant. Er schaut skeptisch.

Er macht den Ermittlern einen schweren Vorwurf: Sie drohen sich zu früh festzulegen, sagt er. Schon wieder. Wie damals, als sie die NSU-Mordserie fälschlich der organisierten Kriminalität zuschrieben. Heute, da sie den NSU als isoliertes Trio sähen, ohne ausreichend nach Helfern zu fahnden.

Einige Vertreter der Polizei, des Verfassungsschutzes oder Mitarbeiter im CDU-geführten Bundesinnenministerium – eigentlich Binningers Leute – verfolgen die Auftritte des 53-Jährigen inzwischen argwöhnisch. Die Kritik des ersten NSU-Ausschusses an den Sicherheitsbehörden sei „überbordend“ gewesen, klagt man dort, es habe sich ein „Jagdeifer“ entwickelt. „Und Herr Binninger hat sich mit in die erste Reihe gestellt.“

Keine Kritik am Ganzen

Binninger lässt sich nicht anmerken, wie sehr ihn die Kritik trifft. „Ich habe gute Nerven“, sagt er nur. Und es gibt ja auch die anderen, Ermittler und Behördenleiter, die Fehler eingestehen, die ihn bestärken.

Im Grunde will sich Binninger auch weiter hinter die Sicherheitsbehörden stellen. Er hält die Geheimdienste für unverzichtbar, fordert den weiteren Einsatz von V-Leuten. Seine Kritik ziele nicht auf die Polizei oder den Verfassungsschutz im Ganzen, betont er immer wieder. Es gehe ihm um den konkreten Fall, das Versagen in der NSU-Affäre. Und jetzt, im zweiten Ausschuss, auch weniger um „politische Verantwortlichkeiten“, als darum, „hoffentlich einige Zweifel und Ungereimtheiten zu beseitigen“.

Bekommt da einer Angst vor der eigenen Courage? Auch letztes Jahr hatte er einen verunglückten Auftritt, als er den Vorsitz im Untersuchungsausschuss hatte, der die NSA-Affäre aufklären sollte. Binninger warnte davor, die deutschen Dienste für die NSA in Mithaftung zu nehmen. Und ihn ärgerte die Dauerforderung der Opposition, den Whistleblower Edward Snowden zu laden. Er schmiss nach der ersten Sitzung hin.

Ein Versprechen

Er hat das Kapitel abgehakt. „Das wird diesmal nicht passieren“, sagt er. Er verweist darauf, dass alle Fraktionen den zweiten NSU-Ausschuss beschlossen haben – wie schon den ersten, damals ein Novum in der Geschichte des Bundestags. Eng wie nie arbeiteten die Parteien zusammen, man duzte sich, alle Anträge wurden gemeinsam gestellt. Und Binninger, der Expolizist, punktete mit seinem Handwerk: Er hielt Zeugen Widersprüche vor, deutete Akten, verwies auf Ermittlungsfehler.

Für den Ausschuss war das ein Segen. Für Binninger aber auch ein Risikospiel. Je schärfer er dort auftritt, desto stärker gefährdet er seine weitere Karriere.

Für ihn gibt es jetzt kaum noch ein Zurück. Als im September 2013 der erste NSU-Untersuchungsausschuss beendet war, gab Binninger im Bundestag ein Versprechen: Aus dem, was geschehen ist, die Lehre zu ziehen, dafür zu sorgen, dass sich solche Morde nicht wiederholen. „Daran lassen wir uns messen.“

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