Neuer Reader zu Susan Sontag: Die Metaphern-Polizistin

Kein Zeichen, kein Slogan, kein Bild ist unschuldig: Der Reader „Radikales Denken“ widmet sich der Aktualität Susan Sontags und ihres Werks.

Susan Sontag steht vor gerahmten Bildern

Autorin und Aktivistin Susan Sontag Foto: imago/ZUMA Press

Es ist doch bloß ein Sweatshirt. Ein Kapuzenpulli mit lustigem Spruch auf der Front: „Coolest Monkey in the Jungle“, „Coolster Affe im Dschungel“. Der schwedische Konzern H&M ließ für seinen Onlineshop einen kleinen schwarzen Jungen in dem Kleidungsstück posieren. Worauf vergangene Woche eine Protestwelle losbrach – zuerst in Südafrika. Wütende Menschen bauten sich vor H&M-Geschäften auf, Shops wurden verwüstet, über Tage blieben Läden geschlossen, das Internet trug die Empörung um den Globus.

Als die junge Susan Sontag (1933–2004) im Alter von etwa 16 Jahren ihre Denk-, Sortier-, Benenn- und Analysearbeit aufnahm, war wohl beides noch undenkbar: Sowohl die massenhafte Aufmerksamkeit für ein derart billiges Konsumprodukt – als auch die Wut, der Zorn, die Kraft des Protests dagegen. Aber heute, ein halbes Jahrhundert, nachdem Sontag ihren Faden aufnahm, wissen wir eben mehr: Kein Zeichen, kein Slogan, kein Bild ist unschuldig.

Man braucht keine Theoriekenntnisse, muss kein Semiotikseminar besucht haben, man muss einfach nur ZeitgenossIn sein, damit die Witterung anspringt: Das H&M-Ding ist eben nicht bloß ein Sweatshirt. Es ist eben kein lustiger Spruch. Sondern man kann ihn, in der Kombination mit dem schwarzen Jungen, als Manifestation von Rassismus lesen.

Es besteht da eine unverkennbare Verwandtschaft zum Tonfall des der Trump-AnhängerInnenschaft: Kurz nach seiner Wahl zum US-Präsidenten hatte eine weiße Provinzpolitikerin die schwarze Ehefrau seines Amtsvorgängers, Michelle Oba­ma, als „Affe mit Stöckelschuhen“ bezeichnete.

„Wir brauchen eine ausgefuchstere (Ideologie-)Kritik der populären Kultur. Nicht zuletzt, weil diese Kultur längst die einzige geworden ist, deren Erfahrung noch wirklich geteilt wird“, schreibt der Kulturkritiker Jens-Christian Rabe im soeben erschienen Reader „Radikales Denken. Zur Aktualität Susan Sontags“. Sehen ist nicht neutral, sondern sozial präfiguriert“, heißt es an anderer Stelle bei der Philosophieprofessorin Juliane Rebentisch.

„Mutter der Pop-Theorie“

Ein gutes Dutzend gegenwärtiger DenkerInnen, JournalistInnen, KünstlerInnen sind mit ihren teils sachlichen, teils eigenwilligen Betrachtungen von Sontags Werk in dem Band vertreten. Er ist im Zürcher Dia­phanes Verlag erschienen und zeigt auf, wie fest Susan Sontags Denk-Mechanik inzwischen allgemein verankert ist.

Manche nennen die US-amerikanische Essayistin, Filmemacherin, Romanautorin heute die „Mutter der Cultural Studies“ oder „Mutter der Pop-Theorie“. Mit ihrem Aufsatz zum Begriff des „Camp“ riss sie 1964 die Barriere zwischen Hochkultur und Populärem ein. Auch in Haarmoden und Werbeslogans erkannte Sontag ein Material, das einer ernsthaften intellektuellen Auseinandersetzung würdig ist.

Auch in Haarmoden und Werbeslogans erkannte Sontag ein Material, das einer ernsthaften intellektuellen Auseinandersetzung würdig ist

Ihr Werk, auch das spätere, in dem sie sich mit Krebs, Aids und Kriegen befasste, ist dem Homo sapiens im 20. Jahrhundert gewidmet – es kreist um eine „neue Erlebnisweise“ der Welt, wie sie erst die fortgeschrittene Moderne ermöglichte. „In einem ist Sontags Definition prophetisch“, schreibt jetzt die Feuilletonistin und Kulturdezernentin Ina Hartwig: „beim Phänomen des billiardenfach gespeicherten Handyfotos.“

Herausgegeben wurde der Band von den Literaturwissenschaftlerinnen Anna-Lisa Dieter und Silvia Tiedtke. Er basiert auf einem Münchner Susan-Sontag-Symposium aus dem Jahr 2014. Das lässt langweiliges akademisches Geschwurbel befürchten, staubige, freudlose Wichtigtuerei. Doch im Klappentext versprechen die Herausgeberinnen „ein Denken in Aphorismen, das auf ungeduldige Leserinnen zielt“ – und dieses Versprechen ist eingelöst.

Geschickt sind die verschiedenen Essays, Erinnerungen, Montagen in eine sinnvolle Reihenfolge montiert. Die Texte sind anspruchsvoll. Doch die AutorInnen folgen, auf je eigene Art, dem Sontag’schen Vorbild: Sie schreiben oder sprechen „erkennbar absichtsvoll unakademisch“ (Rabe). So kann der Band für Sontag-EinsteigerInnen als neugierig machende Einführung dienen, während Sontag-KennerInnen sich an teils überraschenden Seitenblicken und amüsanten Anekdoten erfreuen können.

Sie ist selbst ein popkulturelles Phänomen

„Wenn man (im Münchner Café Roma) mit ihr saß, natürlich so platziert, dass sie gut gesehen werden konnte, nickten ihr alle zwei Minuten die Vorübergehenden zu, dort war ihre schwarze Mähne mit der weißen Strähne stadtbekannt“, erzählt Sontags früherer Verleger Michael Krüger. Er plaudert auch aus, wie schwierig der Umgang mit dieser femme de lettres sein konnte: „Sie besuchte Hans Magnus Enzensberger, der schwer unter ihrer Eitelkeit und Besserwisserei litt und sie am liebsten gar nicht mehr sehen wollte.“

Susan Sontag ist längst selbst zu einem popkulturellen Phänomen geworden, das hie und da auf Postern und T-Shirts prangt. Im Reader wird sie liebevoll „Silberlocke“ genannt (Monika Rinck) oder auch „Metaphern-Polizistin“ (Elisabeth Bronfen). Der Sontag-Biograf Daniel Schreiber beschreibt sie als „wahnsinnig imagebewusst“, der Psychoanalytiker Laurence A. Rickels glaubt gar „den schwulen Mann in ihr“ entdeckt zu haben. Und schließlich führt der DJ und Autor Thomas Meinecke vor, wie sich Sontags hastiger, fragmentarischer Schreibstil auf heutige Sexualitäts­diskurse anwenden lässt.

Anna-Lisa Dieter, Silvia Tiedtke (Hg.): „Radikales Denken. Zur Aktualität Susan Sontags“. Diaphanes Verlag, Zürich 2016, 288 S., 29,95 Euro. Die Buchpremiere findet am 24. Januar in der Buchhandlung pro qm in Berlin statt.

Ein verblüffend deutliches Motiv zieht sich durch die Kapitel: Sontags Widersprüchlichkeiten. Im Feld der Queer Studies reiben sich manche an ihrem Umgang mit schwul-lesbischen Emanzipationssymbolen, während andere sie als Pionierin verehren. Auch Sontag selbst hat ihre Arbeit stets kritisch (rück-)betrachtet, hat ihre Gedankengänge überarbeitet, fortgesponnen, verworfen, einem konstanten Zwang zur teils schmerzhaften Autokorrektur folgend. Der Philologe Eckhard Schumacher schreibt von einem „prinzipiellen Modus der Ambivalenz“.

Nun hat die Gesellschaft für deutsche Sprache gerade den Begriff „alternative Fakten“ zum Unwort des Jahres 2017 gekürt. Es wäre spannend, zu lesen oder zu hören, was Susan Sontag dazu einfiele. Was sie über gegenwärtige Fake-News-Schlachten zu sagen hätte, über #MeToo, über neurechte europäische Identitäre oder die ersten Transsexuellen in der Politik. Sie hat getan, was sie konnte: Sie hat uns die Methode Sontag hinterlassen – mit der sich auf vitale und ­fluide Art weiterdenken lässt, von hier an noch viel weiter.

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