Neuer Roman von Patrick Modiano: Schattenfiguren mit Schuldgefühlen

Der Nobelpreisträger Patrick Modiano macht in seinem neuen Roman der nostalgischen Figur des teilnahmslosen Beobachters den Prozess.

Paris – die Stadt, die mit „existenzialistisch gewirkten Sätzen zum zentralen Ort eines modernen Lebensgefühls erhöht wurde“. Bild: Photocase / re84

Es wirkt alles leicht, fast magisch, doch zugleich ist es transparent. Selten einmal öffnet sich ein Roman so einfach, so selbstverständlich wie dieser. Ein paar Namen nur von Straßen und Personen: „Dannie, Paul Chastagnier, Aghamouri, Duwelz, Gérard Marciano, 'Georges', das Unic Hotel in der Rue du Montparnasse“, und schon stellen sich die Bilder ein aus dem Paris der sechziger Jahre, als St. Germain den Glanz einer intellektuellen Weltkapitale ausstrahlte und selbst die Schattenwelten in den schummrigen Bars in elegantes Schwarzweiß getaucht war.

Die Bilder zeigen eine junge Frau wie aus einem Piaf-Chanson, die sich Dannie nennen lässt, ein leichtes Mädchen wahrscheinlich, stets bedroht von der Gosse, was Jean, der Erzähler, als junger Verehrer nicht sehen mag. Und sie holen Mantelgestalten wie aus einem Melville-Film hervor, deren klangvolle Namen von klandestinen Geschäften künden, die längst verjährt sind, mit Ausnahme des Mords, der irgendwie mit Jeans Erinnerungen verbunden sein muss, beunruhigend wie ein schlechter Traum.

Dass er nicht geträumt habe, behauptet Jean schon im ersten Satz des Romans, und als Beweis listet er die Namen all jener aus seinem Leben Verschwundenen auf, die er fünfzig Jahren zuvor in sein Notizbuch gekritzelt hat. Wie eine Beschwörungsformel liest er die Wörter immer wieder, und mit jeder Lesung setzt der Roman neu an. Man könnte ihn auch irgendwo in der Mitte zu lesen beginnen, so offen ist dieser Text, von der Mitte über das Ende hinaus bis zum Anfang und weiter, was auch bedeutet: Der Erzähler bewegt sich im Kreis.

Denn so leicht sich ihm die Bilder einstellen und so fließend sie aneinandergereiht sind, so flüchtig sind sie zugleich, und sie wollen sich nicht zusammenfügen zu den Geschichten, auf die sie verweisen. Vom zauberhaften Dahingleiten in den Erinnerungen handelt dieser Roman und zugleich vom Abgleiten in die Gefangenschaft eines Schwebezustands, in dem sich die Bilder nur unablässig überblenden, ohne Aussicht, die Welt, die sie abbilden, je zu begreifen.

Patrick Modiano: „Gräser der Nacht“. Aus dem Französischen von Elisabeth Edl. Hanser. München 2014, 176 Seiten, 18,90 Euro

Zauberhaftes Dahingleiten

Als wolle er die diffusen Bilder erden, bricht Jean auf zu Streifzügen in die Stadt, sucht auf Straßenschildern nach Breschen durch die Zeit, und manchmal scheint es ihm zu gelingen: Einmal sieht er sich durch die eigenen Erinnerungen gehen, aber wie ein Zwilling, der parallel im Paris seiner Jugend lebt. Der Doppelgänger Jean erscheint dabei zugleich als Wiedergänger früherer Erzähler Modianos, die wie er als Schriftsteller das Erinnern zu ihrem Beruf gemacht haben und dabei völlig zu verschwinden scheinen hinter ihren Beobachtermasken, was sie wiederum mit dem Autor Patrick Modiano verbindet. Nichts fürchten sie mehr als die Schleier, die sich über die Erinnerung legen, außer dass der Schleier, der ihre Existenz verbirgt, sich einmal hebt.

So kommt es vielleicht auch, dass sich mit dem Namen des diesjährigen Nobelpreisträgers weniger das Bild einer öffentlich gegenwärtigen Person als eines Literatentyp verbindet, der aus dem Fundus der Pariser Folklore jener Zeit stammt, die Modianos Bücher beschwören. Durch seine Romane geistern auch immer die Erinnerung an die pathetisch ernsten Jungdichter, die vor einem halben Jahrhundert die Stadt mit existenzialistisch gewirkten Sätze zum zentralen Ort eines modernen Lebensgefühls erhöhten, wenn sie ihr Fremdsein mit sich selbst postulierten. Zuletzt war es Patrick Modiano so gut gelungen, sich hinter den Beobachtermasken in seinen Büchern zu verbergen, dass sein Name diesen Typus fast wie ein Klischeebild evoziert. In „Gräser der Nacht“ macht Modiano dieser nostalgischen Figur, die sich zum teilnahmslosen Beobachten verurteilt versteht, den Prozess.

Es ist nicht nur der süße Schmerz des Verlusts, der Jean nicht loskommen lässt von Dannie. Zugleich treibt ihn ein Schuldgefühl an, das ihm seltsam unverstanden bleibt, aber im Verlauf des Romans subtil korrespondiert mit der Befreiung aus den Fesseln der Empathie, die nichts als bürgerlicher Ballast war für den jungen Dichter. Die sensible Distanz in der Beschreibung, für die Modiano zu Recht berühmt ist, zeigt in diesem Roman ihre kalte Schattenseite, denn die Übergänge von der Diskretion zum Desinteresse sind fließend, und Jeans jugendliche Ignoranz lässt in seinem Gedächtnis nur blinde Flecken zurück.

Das nie Gesuchte der Bilder

Jean, der kein Wort hat für seine Gefühle zu Dannie, bleibt es versagt, seine Erinnerungen aus einer anderen als der eigenen Perspektive zu verstehen. Dabei hat Modiano ihm eine Schattenfigur beigesellt, einen Polizisten, der die Geschichte Dannies als Mordermittlung erzählen kann. Beide verbindet das unausgesprochene Gefühl, auf der sicheren Seite des Lebens zu stehen. Das Ich, das mag zwar ein anderer sein, ein Zwilling, der an seiner existenziellen Einsamkeit leidet, aber die wirklich anderen, das ist die Halbwelt, das sind Mädchen wie Dannie, und vor allem sind das die Migranten aus dem Maghreb.

Elisabeth Edl, die ein bewegliches, melodiöses Deutsch für ihre Übersetzung gefunden hat, weist darauf hin, dass Modiano mehrmals im Roman an die Ermordung des marokkanischen Exilpolitikers Ben Barka erinnert, und nichts konturiert Jeans Ignoranz schärfer als seine Gleichgültigkeit gegenüber dem Fall.

Vor 25 Jahren fiel die Mauer, alsbald verschwand auch die DDR. Spurlos? taz-Reporter erkunden, was geblieben ist – in den Biografien der Menschen, in Tagebüchern von damals und in Potsdam, einer bis heute geteilten Stadt. taz.am wochenende vom 8./9. November 2014. Außerdem: Hedy Lamarr war der Protoyp der unterkühlten Hollywoodschauspielerin. Dass wir ohne sie nicht mobil telefonieren könnten, weiß kaum jemand. Und: Pulitzer-Preisträger David Maraniss über Barack Obama. Am Kiosk, eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo.

Sie verleiht aber auch der Sprache eine seltene Leichtigkeit. Immer wieder überrascht der geringe Aufwand an Worten, das nie Gesuchte der Bilder und die Offenheit der Erzählbewegung. Nie ist es einfacher gewesen, Zugang zu finden zum Werk eines Nobelpreisträgers, und kaum einmal gelangt eine sentimental motivierte Prosa zu einer erzählerischen Klarheit wie in diesem Roman.

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