Neues Album von 100 Kilo Herz: Doch wenn es brennt

Als Brass Punk bezeichnen 100 Kilo Herz ihre Musik. Auf ihrem neuen Album „Stadt Land Flucht“ haben sie ihr Themenspektrum noch einmal erweitert.

Sechs Männer stehen nebeneinander im Freien. Sie werden teilweise von Pyro-Nebel verdeckt

Mehr als Schall und Rauch: die Band 100 Kilo Herz Foto: Michael Bomke

„Der Alltag kratzt und schlägt und beißt / Doch das hier fühlt sich an wie Lebendigkeit“: Rodi, Sänger der Leipziger Punkband 100 Kilo Herz, beschreibt damit ein Gefühl, das sich auf Konzerten breitmacht. Corona verhindert viele Konzerte, und diese Musik steigert die Sehnsucht danach. Der Song heißt „Nur für eine Nacht“ und gehört zum heute veröffentlichten Album „Stadt Land Flucht“. Es ist das zweite Werk der Leipziger, die ihren Musikstil als „Brass Punk“ bezeichnen.

Neben Rodi, der bei 100 Kilo Herz Bass spielt und singt, gehören zur Band Claas (Saxofon), Clemens (Gitarre), Falk (Schlagzeug), Flecki (Trompete), Marco (Gitarre). Gegründet haben sie sich 2015 mit der Idee, Punk mit Bläsern zu fusionieren. Ihren Namen gab sich 100 Kilo Herz in Anlehnung an die Münsteraner Band Muff Potter und deren Song „100 Kilo“.

Brass Punk als stilistische Einordnung rührt daher, dass 100 Kilo Herz oft dem Ska-Genre mit seinen tanzbaren Off-Beats zugeordnet wurden, was die Band selbst als unzutreffend empfand. Zur Mischung aus Punkrock und eingängigen Melodien von Trompete und Saxofon kommen auf „Stadt Land Flucht“ ernste bis dystopische Texte.

Im Gegensatz zum Debütalbum „Weit weg von zu Hause“ erweitern 100 Kilo Herz ihre Textthemen, nun gibt es mehr als nur politische Kommentare. So setzt sich die Band in „Tresenfrist“ mit übermäßigem Alkoholkonsum auseinander, der in der Punkszene oftmals auf hohle Weise glorifiziert wird: „Und irgendwas in dir hört niemals auf zu schrei’n / Und kann es nicht ertragen / Mit sich allein zu sein“.

Ein mutiges, antimachistisches Statement, Sänger Rodi schildert in dem Podcast „Uncle M Kaffeekränzchen“, woher die Inspiration für den Text kommt: „Ich kenne einen trockenen Alkoholiker, der sich seine Flaschen umetikettiert, damit nicht auffällt, dass er alkoholfreies Bier trinkt.“ Auch in dem Song „… und aus den Boxen …But Alive“ geht es um Alkohol- und Drogenkonsum in Bars und auf Partys, Puritaner sind 100 Kilo Herz offensichtlich keine: „Deinen Namen kenn ich nicht / Doch deine Nähe nehm ich an / Weil der Abend so vielleicht noch besser werden kann“.

Dystopische Dimensionen

An anderer Stelle thematisiert die Band – dem Albumtitel folgend – Fluchtgedanken. Den Wegzug aus der Provinz in die Großstadt haben die Bandmitglieder schon hinter sich: Alle sind auf dem Land groß geworden. Bei 100 Kilo Herz bekommt das Thema Flucht weitere, auch dystopische Dimensionen und dann wird es spannend.

In „Wenn es brennt“ wird ein totalitärer Staat in allen Auswirkungen beschrieben: „Bevor dieses Land ein Schlachtfeld ist / Sind wir hoffentlich in Den Haag“; „Du weißt, ich wollte nie kämpfen / Doch wenn es brennt, passen wir auf uns auf“. Bei „Sowas wie ein Testament“ stellt sich der Vortragende wiederum Szenarien von Beerdigungen vor. Die Tristesse wird von der Musik kontrastiert. Der Sound von 100 Kilo Herz ist dermaßen melodiös, dass man sofort mitsingen will.

„Drei Jahre ausgebrannt“, „Drei vor fünf vor zwölf“ und „Scheren fressen“ schlagen textlich eher in die politische Kerbe. Speziell „Drei Jahre ausgebrannt“, zum Auftakt, gleichzeitig auch die erste Single-Auskopplung, beschreibt zu locker-flockigen Bläserarrangements Alltagsrassismus und Sexismus: „Der Griff an die Hüfte war doch nur ein Kompliment“, und in „Drei vor fünf vor zwölf“ geht es – ebenfalls mit fröhlicher Trompetenuntermalung um den gegenwärtigen Zustand Deutschlands: „Nach fast einhundert Jahren haben wir Applaus verdient / Wir haben die Nazis abgeschafft und den Fremdenhass besiegt / Kein linkes Viertel ist Gefahrengebiet und kein Neonazi, der im Landtag Geld verdient“. „Scheren fressen“ beschäftigt sich mit den rechtsradikalen Terroristen des NSU und dem kollektiven Geschichtsvergessen. Die Drums bollern so los, dass man am liebsten direkt in die Luft springen möchte.

Zurück zu „Nur für eine Nacht“: Die Band hat neben zwei Open-Air-Record-Release-Shows heute und morgen in Leipzig eine Tour im Herbst angekündigt. Ob es dazu kommt, ist Stand jetzt eher fraglich. Auch Zuschauende vermissen Konzertatmosphäre und die von 100 Kilo Herz beschriebene Lebendigkeit mittlerweile schmerzlich. Das neue Album der Band lindert dies wenigstens ein bisschen.

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