Neues Buch von Peter Sloterdijk: Das Verderbte korrigieren

Peter Sloterdijks Kulturtheorie in „Die schrecklichen Kinder der Neuzeit“ ist die Verfallsgeschichte eines Ultrakonservativen.

Sloterdijks Leitfigur Madame Pompadour und ihr zynischer Spruch: „Nach uns die Sintflut“. Bild: Imago/United Archives

Der Selbstwiderspruch in Permanenz ist der Preis, den guruhaftes Kalauern, das als Philosophie auftritt, entrichten muss. In Peter Sloterdijks neuem Buch, „Die schrecklichen Kinder der Neuzeit“, wird der Preis gleich auf der ersten Seite fällig: „In der Welt sein heißt, im Unklaren sein“ – aber das in voller Klarheit. Und was, wenn das Im-Unklaren-Sein seinerseits etwas restlos Unklares wäre oder die vermeintliche Klarheit über die Unklarheit eine bloße Fiktion?

So geht das weiter mit Selbstwidersprüchen hohler Pauschalbefunde: „Wir alle haben eine Heimat gegen ein Exil getauscht.“ „Wir“, „alle“ und die, die nie eine Heimat hatten, was haben die eingetauscht? „Die Lage des Menschen ist Sündenfolge.“ Zählen zu den Menschen auch Agnostiker, Atheisten, sündenferne Glückskinder?

Den Ursprung für die ewig währende Erbsünde sieht Sloterdijk in der Erbsündenlehre des Kirchenvaters Aurelius Augustinus (354–430 n. Chr.). Dieser Lehre zufolge gehört das Sündigen zur menschlichen Existenz. Zu Nichtsündern können nur wenige Erwählte werden. Die Sünde verbreitet sich seit Adam mit der Zeugung eines Lebewesens.

Wenige Seiten weiter landet Sloterdijk jedoch bei Rousseau, der die Erbsündenlehre umschrieb, indem er „die Vertreibung aus dem Paradies der Eigentumslosigkeit als Gründungsakt der bürgerlichen Gesellschaft“ begriff. Für den Kantianer Friedrich Schiller wurde aus der Vertreibung der Beginn „der größten und glücklichsten Begebenheit der Menschheitsgeschichte“, die Vernunft und Autonomie verleihe.

Sloterdijks Buch will nicht die Sündenlehre des Augustinus aufwärmen, denn er meint, aus der Erbsünde sei im 19. Jahrhundert Erbgeschichte geworden, die sich in „erworbenen Beengungen“ (Klassenlage, kultureller Zugehörigkeit, Schule, Familie) manifestiere. Diese „Erbmassen des Bestehenden“ sieht er als „Säkularisation der Erbsünde“, denen die Moderne mit der Intention begegne, sie mit „Dynamit, Utopie, Arbeitsniederlegung, Familienrecht, genetischer Manipulation, Drogen und Pop“ zu beseitigen.

Manuela Schwesig ringt darum, Kind und Karriere zu vereinbaren. Nicht nur als Familienministerin. Warum sie trotz eines Kanzlerinnen-Rüffels immer noch an ihre Idee von der 32-Stunden-Woche glaubt, lesen Sie in der taz.am wochenende vom 21./22. Juni 2014. Außerdem: Bekommen wir bald Vollbeschäftigung? Ein Vater blickt in die Zukunft seines Sohnes. Und im sonntaz-Streit: Nordsee oder Ostsee? Am Kiosk, eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo.

Sloterdijk beabsichtigt eine „nicht-theologische Neubeschreibung menschlicher Erbverlegenheiten“. Sein Vorhaben gleicht dem Vorgehen Carl Schmitts, der politische Begriffe als säkularisierte theologische Begriffe deutete. Vom Juristen Schmitt unterscheidet sich der lärmende Generalist Sloterdijk, dass er gespreizt-totalisierend auftrumpft: „juristisch, klinisch, kulturwissenschaftlich und medientheoretisch“ will er „religiös codierte Sachverhalte“ in „weltliche Ausdrücke“ übersetzen.

Aufgebretzelte Kulturtheorie

Die „zivilisationsdynamisch“ so aufgebretzelte „Kulturtheorie“ erscheint aber nur als Kopie des üblichen Psycho-Handlangertums von der Stange, wonach sich Traumata und Neurosen der Väter wie eine Erbkrankeit fortpflanzen. Sloterdijk beruft sich auf den christlichen Geschichtsphilosophen Pierre-Simon Ballanche (1776–1847), der augustinische Schuldexzesse durch „Prüfungen“ („épreuves“) – statt Verdammung – kompensieren wollte. Das Verderbte im Menschen soll so korrigiert werden.

Im Geist des Geschichtsphilosophen Ballanche deutet Sloterdijk auch den der Madame de Pompadour zugeschriebenen Ausspruch „nach uns die Sintflut“ als ein Pendeln zwischen „inkorrekter Rede“ und „beunruhigender Hellsicht“. Die vor allem aus Legenden und Gerüchten bestehende Geschichte der Maitresse von König Ludwig XV. dient Sloterdijk als Folie für einen Ritt durch das Ancien Régime und die Revolution bis in die Gegenwart.

Peter Sloterdijk: „Die schrecklichen Kinder der Neuzeit“. Suhrkamp, Berlin 2014, 495 Seiten, 26,95 Euro

Auf zwei Seiten mixt er einen Cocktail aus König, Maitresse, Nietzsche, Trotzki, Freud, Mao, Sartre, Camus und Schumpeter zusammen und skizziert seine „ontologische Partitur der Moderne“ als privilegierter Deuter des Geschehens im königlichen Ehebett: „Für sie (Pompadour) war die geschlechtliche Vereinigung ein Zugeständnis an den Patois (Dialekt) des Unterleibs, der auch bei Hof gern gesprochen wurde. Ihr wahres Idiom war die Hochsprache der Psyche, die das Unmögliche begehrt und es auf mirakulöse Weise erlangt.“

Wie ein ganz alter Geschichtsphilosoph

In diesem Angebergestus geht es munter die Geschichte hinauf und hinunter, kreuz und quer, vorwärts und rückwärts. Sloterdijk kritisiert mit Recht „die Fabrikationen der Geschichtsphilosophie“, redet aber – wie ein ganz alter Geschichtsphilosoph – vom heutigen „Zeitalter der Reparaturen“, so, als ob er den Kosmos von oben und von außen so scharf im Blick hätte wie das Bett des Königspaars.

Sloterdijks Kulturtheorie lebt von Spekulationen, grobianischen Anachronismen und Reduktionismus sowie dem „zivilisationsdynamischen Hauptsatz“: „Im Weltprozess nach dem Hiatus“ (das heißt nach der Französischen Revolution) „werden ständig mehr Energien freigesetzt, als unter Formen überlieferungsfähiger Zivilisierung gebunden werden können.“ Zu dieser unter Vollgas im Leerlauf erzeugten Improvisation formuliert Sloterdijk noch 25 Untersätze als „Ergänzung“ zu Luhmanns Systemtheorie.

Zumindest den letzten Untersatz hat der Autor am eigenen Leib und im eigenen Traum verifiziert: Menschenkörper in wohlhabenden Gegenden – so Untersatz Nr. 25 – speichern mehr Fettreserven, als Bewegung und Diät abbauen können. Nach dem Duschen entdeckte Sloterdijk seine beachtliche Fettlandschaft um Bauch und Hüfte, aber etwas weiter unten sah er – im Traum – „eine gewisse Überfunktion, begleitet von einer heftigen Genugtuung über das nackte Daß“.

Verständlich, dass in einer so gehäkelten Kulturtheorie kein Platz für das bleibt, worauf nicht nur die Bildung von Fettreserven beruht: Kapital, Arbeit, Ausbeutung von Menschen und Natur, Herrschaft. Auf die alte Geschichtsphilosophie folgt nun Sloterdijks „zivilisationsdynamische“ Chaos-Sophie. Seine These: Nach 1789 befindet sich die Moderne auf einer Drift, die in Abgrund und Chaos führt.

An sieben historischen Episoden von der jakobinischen Terreur 1793 bis zum Ende des Währungssystems von Bretten Woods 1971 schildert der Apokalyptiker die vulgärtheologisch behauptete Drift. Die schon hundertfach für allerlei herzitierten „Episoden“ – genauer: Legenden, Gerüchte und Anekdoten rund um historische Ereignisse – tragen gar nichts zu historischer Aufklärung bei, dafür viel zu „zivilisationsdynamischen“ Privatmythologien der plumpen Art.

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