Nichtwählen? Oder was sonst?: Wählen gehen trotz Abscheu

Wer lange nicht zur Wahl geht, der richtet sich ein in der Abscheu gegen die Politik. Aber ist Nichtwählen nicht feige? Warum es unterm Strich dann besser ist, die Piraten zu wählen.

Wer seit Längerem nicht zur Wahl geht, gewöhnt sich daran. Der richtet sich ein in der totalen Wahlverweigerung. Der lehnt die parlamentarischen Parteien ab, der verzweifelt an der fehlenden Bereitschaft des Establishments zu jener umfassenden Veränderung, die nottäte.

Wer nicht zur Wahl geht, kann durchaus bewusst und überlegt nicht wählen. Er hat Sprüche auf der Zunge, die nicht die schlechtesten sind: "Wenn Wahlen etwas ändern würden, dann wären sie verboten" (angeblich von Rosa Luxemburg oder Kurt Tucholsky). Auch Argumente, die nicht so leicht vom Stammtisch zu wischen sind: "Parteien sind heute keine Agenturen von Veränderung, sondern die Oberpriester der Wachstumsreligion" (Harald Welzer).

Und der Nichtwähler fragt sich: Heißt es abstimmen, weil man seine demokratische Stimme abgibt und erst vier Jahre später wieder ausgehändigt bekommt? Was ist das für eine Vorstellung von Demokratie? Wie würden Sie eine Ehe bezeichnen, in der Sie nur einmal alle vier Jahre das Fernsehprogramm bestimmen dürften?

Der Vergleich hinkt nicht so sehr, wie man zunächst meinen könnte. Denn die Gewählten ändern nach den Wahlen recht schnell mal das Programm. Schon könnte der Nichtwähler das nächste schlaue Zitat bemühen, dieses Mal vom Realo der ersten Stunde, Otto von Bismarck: "Selten wird so viel gelogen wie vor der Wahl, während des Krieges und nach der Jagd."

So dachte auch ich - bis mir kurz nach der Europawahl ein von mir hoch geschätzter österreichischer Schriftsteller den Kopf wusch. Nichtwählen sei feige, sagte er, denn man nutze nicht die Chance, Politik zu gestalten, und sei es auch nur, indem man den Stimmzettel ungültig mache, um Protest auszudrücken. Noch besser sei es aber, während man auf die Umwälzung der Verhältnisse warte, zwischenzeitlich das kleinere Übel zu wählen.

Nicht jeder würde dieser Ansicht zustimmen. Es gibt ja auch jene, die der Meinung sind, es müsse erst noch viel schlimmer werden, bevor es besser werden könne. Wie dem auch sei, ich beschloss, mir bei der Bundestagswahl genau zu überlegen, was ich mit meiner Stimme anstellen könnte.

Diese Einstellung bewirkt, dass man den Wahlkampf samt Reden, Disputen und Programmen genauer unter die Lupe nimmt, hat aber den Nachteil, dass man in seiner Skepsis, um nicht zu sagen Abscheu, bestärkt wird. Aber ich ließ mich nicht entmutigen und entsann mich eines Buches, das ich als Jugendlicher gelesen hatte: "Überlegungen eines Wechselwählers" von Sebastian Haffner. Was mir von der Lektüre in Erinnerung geblieben ist, erschien mir als Leitlinie meiner Wahlentscheidung von Nutzen: Such dir das Thema aus, das dich momentan am meisten berührt, bedroht, belastet. Und überleg dir, welche Partei diesem Thema am ehesten gerecht wird.

Für Haffner war es 1980 die Außenpolitik, weswegen er der SPD aufgrund ihrer Entspannungspolitik den Vorrang gab; für mich sind es die individuellen Freiheiten, die bei uns seit mehr als einem Jahrzehnt systematisch untergraben werden, der Datenschutz und die Verteidigung der Privatsphäre. Welche Partei also wird (bei allen Unwägbarkeiten) die Bürgerrechte am ehesten schützen?

Über die Option CDU/CSU musste ich nicht lange nachdenken. Schließlich stellt diese Partei eine Kanzlerin, die stolz folgenden Satz von sich gegeben hat: "Eigentlich läuft alles ganz prima, aber trotzdem brauchen wir mehr Überwachung." Da braucht man sich nicht wundern, dass die CDU mit dem Foto von Olaf Thon (neben einer Boxerin und einer Kickboxerin) für sich werben lässt.

Die FDP hat zwar in letzter Zeit ihre liberalen Instinkte aus der Reinigung geholt, und es wird sogar gemunkelt, dass die ehrenwerte Leutheusser-Schnarrenberger Justizministerin werden soll, aber in den Landesregierungen, an denen die FDP beteiligt ist, ist von überzeugter und überzeugender Verteidigung der Bürgerrechte wenig zu sehen. Ansonsten bietet die Partei neben Wachstumsgeilheit jede Menge weiteren Wahn. Sie zu wählen, hieße - in den Worten des besten deutschen Kabarettisten Volker Pispers - anzunehmen, dass "nur wer den Weg in die Scheiße gekannt hat, uns wieder herausführen kann".

Die Grünen formulieren in ihrem Wahlprogramm am klarsten, dass es ohne Umwelt- und Klimaschutz, Beendigung der Armut, der Ausbeutung von Ressourcen und Menschen keinen Frieden, also auch keine Sicherheit geben kann. Aber sie waren sieben Jahre lang an einer Regierung beteiligt, die in Brüssel die Einführung der E-Pässe massiv betrieb, und sie haben bei dem Abbau von Freiheitsrechten (Stichwort Otto-Kataloge) durch Ausschweigen und Mitlaufen Schande erworben.

"Ach", erwiderte mir neulich einer der Bundestagskandidaten dieser Partei, "da waren wir ja auch an der Macht", und trotz intensiver Studien seiner Gesichtsmuskulatur konnte ich nicht herausfinden, ob er den regungslosesten Humor seit Buster Keaton an den Tag legte oder ob er mit atemberaubender Ehrlichkeit zugab: Gute Absichten gelten nur außerhalb der Macht.

Auch Die Linke kritisiert in ihrem Programm manch eine Überreaktion im Bereich der inneren Sicherheit, aber wie soll man vergessen, dass sie zu großen Teilen von der PDS abstammt, die in ihrer früheren Avatara als SED die Bürger flächendeckend durch einen allgegenwärtigen, allmächtigen Stasi-Apparat überwachte und erniedrigte. Solange das Verhältnis dieser Partei zur ihrer DDR-Geschichte ambivalent ist (freundlich gesagt), bleibt sie für mich unwählbar.

Da bleibt nur, der aufmerksame Leser hat es bestimmt schon erraten, die Piratenpartei. Ihr Eintreten für die Bürgerrechte und die Freiheit im Netz ist (momentan noch) über jeden Zweifel erhaben; ebenso ihre Bereitschaft, den Datenschutz umfassend auszubauen. Zudem würde mit dieser Partei etwas virtueller Sachverstand in einen Bundestag ziehen, in dem manche sich "das Internet ausdrucken" lassen, während andere die E-Mail als Beispiel für modernste Informationstechnologie herausstellen. Und vor allem würde ein wenig frischer, hier und da vielleicht sogar anarchistischer Wind durch die verspiegelten Hallen der Macht pfeifen - und auch das täte not.

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