O-Platz-Aktivistin über Flüchlingspolitik: „Oranienplatz ist überall“

Napuli Paul ist eine Ikone der Refugee-Bewegung. Die Aktivistin über die Räumung des Berliner Protestcamps vor zwei Jahren, Anerkennung und Rassismus.

Eine Frau sitzt auf einer Baumgabelung

Vor zwei Jahren verbrachte Napuli Paul aus Protest gegen die O-Platz-Räumung fünf Tage auf einem Baum Foto: dpa

taz: Frau Paul, auf dem Oranienplatz kämpften Sie für die Sichtbarkeit von Geflüchteten in der Öffentlichkeit. Inzwischen vergeht kaum ein Tag ohne Nachrichten über die sogenannte „Flüchtlingskrise“. Ist das die Art von Aufmerksamkeit, die Sie wollten?

Napuli Paul: Für uns Geflüchtete ist das gut. Wir sind jetzt präsent. Ob positiv oder negativ ist erst mal zweitrangig. Wenn ich an die Zeit vor dem Protest zurückdenke, da gab es keine Berichterstattung. Geflüchtete kamen nicht vor. Daher ging es uns, als wir den Oranienplatz besetzten, erst mal darum, sichtbar zu werden. Wir brachten neue Themen auf die Agenda: die Residenzpflicht, Abschiebungen und Lagerunterbringung. Wir haben für ein besseres Asylsystem gekämpft.

Schon 2012 haben wir vorausgesehen, dass noch mehr Menschen nach Europa fliehen werden. Niemand schenkte uns Gehör. Jetzt, vier Jahre später, sind Geflüchtete das Topthema. Jede*r ist damit in Berührung. Die Politiker*innen müssen sich täglich darüber streiten. Sie haben zugelassen, dass sich die Situation so entwickelt.

Was hätte denn Ihrer Meinung nach anders laufen müssen?

Die Dublin-Regelung hätte schon längst abgeschafft werden müssen. Sie zwingt Geflüchtete, an einem bestimmten Ort Asyl zu beantragen und in einem Heim zu wohnen. Dabei haben doch die meisten, schon bevor sie überhaupt die europäische Grenze übertreten, Kontakte in einem der EU-Länder. Dort leben meist Verwandte oder Freund*innen, die sie in der Anfangsphase unterstützen können. Warum lässt man den Menschen dann nicht die Freiheit, ihre Netzwerke zu nutzen? Das würden sie doch auch machen, wenn sie in ein anderes Land gehen würden.

Was müsste die Politik Ihrer Meinung nach für Geflüchtete tun?

Der Mensch: Vor ihrer Hochzeit war sie als Napuli Langa bekannt. Die sudanesische Menschenrechtsaktivistin studierte Development Studies und Kunst in Khartoum und Kampala.

Die Taten: 2012 schloss sie sich der Refugee-Bewegung an, als diese ihr Lager in Braunschweig besuchte. Seitdem kämpft sie für Selbstbestimmung und Bewegungsfreiheit für Geflüchtete, ob auf einem Baum, in einem Zelt am O-Platz, oder wie derzeit in einem Bus Richtung Idomeni. Gemeinsam mit anderen O-Platz-Aktivist*innen hält sie die Bewegung am Leben. Sie organisiert Proteste und Konferenzen, fährt in entlegene Lager und leistet Aufklärungsarbeit.

Die Aufgabe des Staates ist es, neben der Bewegungsfreiheit auch das Recht auf Arbeit, Bildung und Wohnraum umzusetzen. Mir muss niemand was von zu wenig Wohnraum erzählen. An vielen Orten gibt es Leerstand. Sogar im Lageso gibt es freie Räume. Und: Menschen, die seit Monaten auf der Flucht sind, wünschen sich nichts sehnlicher, als ihr Studium fortzusetzen oder zu arbeiten. Man muss ihnen aber auch die Freiheit dazu geben.

Angela Merkel hat mit ihrem Satz „Wir schaffen das“ den Diskurs entscheidend geprägt. Was halten Sie von dieser Aussage?

Es wurde Zeit, dass jemand so einen Satz sagt. Und Angela Merkel hat es getan. Aber das hat den Menschen auch nicht geholfen, hierher zu kommen. Sie brauchen keine Einladung. Das ist nicht das Problem. Merkels Aussage ist für mich nichts weiter als eine leere Floskel. Sie tut nicht mehr, als uns ein bloßes Überleben zu ermöglichen.

Sind Sie da nicht etwas ungnädig? Die steigende Zahl der Geflüchteten stellt Politiker*innen ja auch vor eine große Herausforderung.

Ist es zu viel verlangt, Menschen hier ein Leben in Würde zu ermöglichen? Sie wollen ein neues Leben beginnen. Eines, das ihren persönlichen Bedürfnissen entspricht, und Deutschland hat die Pflicht, ihnen das zu ermöglichen. Die humanitäre Situation darf nicht benutzt werden, um von den Freiheitsrechten der Menschen abzulenken. Beides ist wichtig, und Deutschland ist wirtschaftlich in der Lage, beides zu stemmen, da bin ich mir sicher. Da muss nur der politische Wille entwickelt werden.

Wenn wir uns aktuelle Wahlergebnisse und die Berichterstattung über Geflüchtete anschauen, erscheint das eher unrealistisch, oder?

Ja, es gibt viel Rassismus in Deutschland. Das Land ist hektisch im Moment. Niemand weiß, was zu tun ist. Die Menschen haben Angst. Nach Köln und Paris denken viele, dass nur Männer hierher kommen. Dass das alles Terroristen und Vergewaltiger sind. Sogar unter den Helfer*innen gibt es manchmal solche Ressentiments. Dabei ist doch klar, dass das so nicht stimmt. Männer gibt es überall auf der Welt und überall vergewaltigen sie.

Warum sprechen wir nicht über alle Männer, wenn wir über sexualisierte Gewalt sprechen? Solche einseitigen Diskurse zeugen nicht nur von Dummheit, sondern spielen auch noch denen in die Hände, die beweisen wollen, dass Geflüchtete per se schlechte Menschen seien. Und damit will ich nicht sagen, dass Geflüchtete von Natur aus gute Menschen sind.

Da Sie gerade von Helfer*innen sprachen. Was halten Sie von den vielen neuen Hilfsinitiativen, die vornehmlich aus weißen Biodeutschen bestehen?

Es geht hier um zwei Dinge: um die politischen Ideale, für die man kämpft, und ums Überleben. Man muss sich vor Kälte schützen, man muss essen. Wenn man von morgens bis abends nichts isst, sieht man doppelt, einem ist schlecht und man kann nicht diskutieren. Die Hilfsinitiativen sind also meiner Meinung nach eine gute Sache. Dennoch bleiben zwei wichtige Fragen: Erstens, wo sind wir als selbstorganisierte Geflüchtete? Und zweitens, wie machen die Helfer*innen kenntlich, dass sie nicht für den Staat arbeiten?

Warum ist Ihnen das wichtig?

Kürzlich bin ich zum Lageso gegangen, um mir die Lage dort anzusehen. Helfer*innen verteilten Essen. Mich haben die natürlich als eine der Geflüchteten gesehen und haben mir eine Schüssel Suppe in die Hand gedrückt. Ich bedankte mich und fragte, zu welcher Organisation sie gehörten. „No time, no time!“, war die Antwort. Es gab keine Banner, keine Flyer. Nichts. Später, bei einer Diskussionsveranstaltung am Lageso, sagte ich zu den Helfer*innen, dass sie gute Arbeit machen. Aber dass sie eben auch kenntlich machen müssen, dass sie unabhängig vom Staat sind, dass sie mit dem Asylsystem nicht einverstanden sind.

Ist es nicht egal, von wem die Hilfe kommt?

Nein, denn häufig können die Geflüchteten nicht zwischen staatlichen und zivilgesellschaftlichen Angeboten unterscheiden. Sie werden zu Talkshows oder Interviews eingeladen und sagen: Gesegnet sei Deutschland, denn man hat uns Kleidung und Essen gegeben. Der Staat bekommt dann Anerkennung für etwas, das er nicht getan hat.

Heißt das, Sie wünschen sich mehr Anerkennung für Ihre eigene politische Arbeit?

Haben Sie auch nur eine*n von uns Refugee-Aktivist*in bei politischen Großevents zu diesem Thema gesehen? Wir haben Leute in Hamburg, Hannover, München. Überall in Deutschland sind wir organisiert, aber keiner von uns wird zu repräsentativen Veranstaltungen eingeladen. Und warum? Weil wir den Politiker*innen zu radikal sind. Sie wollen uns nicht zuhören. Manchmal sagen sie auch: Aber die sprechen doch kein Deutsch. Und ich denke mir: Hey, ihr redet hier über mein Thema! Ihr redet hier über mich!

Und was würden Sie denen sagen?

Beendet die Abschiebungen und die Abschottung. Wieso werden jetzt noch mehr Zäune gebaut? Deutschland bezahlt anderen Ländern Geld, um Geflüchtete aufzuhalten. Nicht nur der Türkei, auch dem Sudan und Ägypten. Aber wenn Wasser fließt, kannst du zwar versuchen, es aufzuhalten. Doch am Ende findet das Wasser seinen Weg. Wenn ihr die Fluchtursachen bekämpfen wollt, müsst ihr aufhören mit all dem Unsinn, den ihr in anderen Ländern macht. Mit Krieg – ob mit militärischen oder wirtschaftlichen Mitteln. Der Kolonialismus wirkt immer noch nach. Auch damals hat niemand die Europäer*innen eingeladen. Sie sind einfach dorthin gegangen. Und jetzt nennen sie uns illegal? Das akzeptieren wir nicht!

Durch das im Februar beschlossene Asylpaket II können viele Asylbewerber*innen noch einfacher abgeschoben werden. Die Residenzpflicht wird vielerorts wieder eingeführt. Beunruhigt Sie das?

Welche Restriktionen sie auch einführen mögen, für uns ist das alles nichts Neues. Die Menschen kommen so oder so. Oder glauben Sie wirklich, irgendjemand geht von hier weg, weil jetzt wieder Essenspakete anstelle von Bargeld ausgegeben werden? Einige wird das in die Kriminalität zwingen. In Drogenhandel und Klauen, aber abschrecken wird sie das nicht.

Das klingt jetzt aber sehr nach Fatalismus.

Wir müssen das so krass formulieren, damit die Politiker*innen verstehen, dass ihre Restriktionen, ihre Zäune, ihre Abschreckung nichts bringen. Sie können die Migration nicht aufhalten, und man sollte sich lieber jetzt um nachhaltige Lösungen bemühen, statt Panik zu verbreiten. Die behindert nur unsere Arbeit als Aktivist*innen.

Worin besteht diese Arbeit?

Wir als Bewegung wollen Menschen über ihre Rechte informieren. Wir wollen sie darin bestärken, ihre Stimme zu erheben gegen schlechte Umstände in Lagern. Ihnen ihre Angst nehmen. Wir treffen uns jeden Sonntag und organisieren Proteste, machen Bustouren zu den Lagern und vernetzen uns mit anderen Gruppen. Wir arbeiten am Empowerment der Geflüchteten. Der Kampf geht weiter. Oranienplatz ist überall.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.