Ökonom über demografische Entwicklung: „Deutschland muss sich neu erfinden“

Die Flüchtlinge werden unsere Gesellschaft kaum verändern, meint Thomas Straubhaar. Eine schrumpfende Gesellschaft sei auch eine Chance.

Vier Männer im Blaumann von hinten, sie schrauben an irgendwelchen Dingen herum

Arbeitskräfte von morgen? Syrische Flüchtlinge bei einer Bildungsmaßnahme in der Handwerkskammer Cottbus Foto: dpa

taz: Herr Straubhaar, vor einem halben Jahr war die angebliche „Masseneinwanderung“ von Flüchtlingen in Deutschland noch ein großes Thema. Wie stark, glauben Sie, werden diese das Land verändern?

Thomas Straubhaar: Weit weniger, als es die hochkochenden Emotionen der letzten Monate vermuten lassen. Angesichts einer deutschen Bevölkerung von 81 Millionen fällt eine Zuwanderung selbst von bis zu einer Million Flüchtlingen kaum ins Gewicht. Und die Erfahrung zeigt ganz klar, dass Flüchtlingsbewegungen – selbst wenn sie so stark ausfallen wie letztes Jahr – langfristig kaum eine nachhaltige Wirkung entfalten, weder positiv noch negativ.

Lassen sich mit den Flüchtlingen denn manche Folgen des demografischen Wandels abmildern?

Das stelle ich sehr in Frage. Weder können die Flüchtlinge den drohenden Mangel an Fachkräften kompensieren – schon allein, weil sie in ihren Qualifikationen sehr stark von dem abweichen, woran es in Deutschland am stärksten fehlt. Noch sollte man die Flüchtlinge als Konkurrenz für die hiesigen Arbeitskräfte sehen. Wegen der Flüchtlinge wird weder die Arbeitslosigkeit ansteigen, noch werden die Sozialkassen geleert. Aber um ökonomische Kriterien sollte es bei der Aufnahme von Flüchtlingen auch gar nicht gehen. Da geht es um Humanität, um Hilfe für Menschen in Not. Das sollten die Bedürfnisse des Aufnahmelandes überhaupt keine Rolle spielen.

Braucht Deutschland mehr Einwanderung?

Wir haben in Deutschland mehr als genug stille Reserven, die arbeiten möchten und das auch könnten, wenn wir sie lassen würden. Wir haben große ungenutzte Potenziale bei Frauen, bei Älteren und vor allem bei den Menschen mit Migrationshintergrund, die schon hier leben. Wenn wir deren Potenziale besser nutzen würden, hätten wir von morgen an Millionen von Fachkräften. Dazu müssten die Unternehmen bereit sein, den Erwartungen der Menschen, die gern arbeiten würden, entgegenkommen. Deshalb sage ich: Der Fachkräftemangel ist primär ein hausgemachter Mangel an unternehmerischer Führung.

Sie meinen, die Unternehmen geben sich nicht genug Mühe?

Ja genau. Sie verstehen offenbar noch nicht, wie die Arbeitswelt des 21. Jahrhunderts tickt: also, wie Arbeitsplätze in unserer heutigen Welt der digitalen Globalisierung so zu gestalten sind, dass sie für gut gebildete Frauen, gut gebildete Ältere und gut gebildete, hier geborene Menschen mit Migrationshintergrund attraktiv sind. Ich habe mal versucht zu errechnen, wie groß die Arbeitseinsparung durch Digitalisierung sein müsste, um die drohende Lücke zwischen Angebot und Nachfrage auf dem Arbeitsmarkt zu schließen. Das Ergebnis hat mich selbst verblüfft: bereits ein geringfügiger Produktivitätsfortschritt von einem halben Prozent genügt da eigentlich, um alle Lücken zu schließen.

Ist der Fachkräftemangel also eine Phantomdebatte?

Ja. Wenn ich an 3-D-Drucker denke, an selbst fahrende Autos und sich selbst steuernde Flugzeuge, an Maschinen, Roboter und Smart-Grids-Technologien, die stupide Routine und Fließbandarbeit übernehmen, dann sollten wir eher froh darüber sein, dass die Zahl der Erwerbspersonen insgesamt zurückgeht.

59, war bis 2014 Direktor des Hamburgischen Weltwirtschaftsinstituts. Er lehrt an der Universität Hamburg. Im März erschien von ihm: „Der Untergang ist abgesagt: Wider die Mythen des demografischen Wandels“ (Edition Körber-Stiftung).

Zurück zu den Flüchtlingen: Was ist da zu tun?

Die pragmatisch richtige Vorgehensweise wäre erstens, die Kinder so schnell wie möglich zur Schule gehen zu lassen und zweitens den Menschen, die hier sind, zu helfen, damit sie möglichst schnell durch eigene Arbeit zu ihrem Lebensunterhalt beitragen können. Das würde ich über spezifische Lohnzuschüsse machen, die an die Arbeitgeber fließen sollten, die Asylbewerber beschäftigen. Und man könnte sich generell die Frage stellen, ob solche Lohnzuschüsse nicht eine gute Idee wären, um Langzeitarbeitslose oder Menschen mit geringer Qualifikation in den Arbeitsmarkt einzugliedern.

Manche fordern, den Mindestlohn aufzuweichen, um Flüchtlinge schneller in den Arbeitsmarkt zu integrieren. Sie nicht?

Ich denke, dass der Mindestlohn in seiner Wirkung überschätzt wird. Das sieht man doch jetzt: Weder hat er zu einem Anstieg der Arbeitslosigkeit geführt, noch hat er etwas daran geändert, dass Langzeitarbeitslose oder gering Qualifizierte die Verlierer des Strukturwandels sind. Nach diesem sehr emotional geführten Streit, jetzt wieder daran zu rütteln, würde den Konflikt nur unnötig wieder aufflammen lassen. Ich würde außerdem dafür plädieren, keine Tatbestände zu schaffen, die Asylbewerber einseitig bevorzugen, denn das schafft nur böses Blut. Wenn man schon erkennt, dass bestimmte Gruppen einer Hilfe bedürfen, dann sollte die für alle gelten. Sonst schafft das Neid, Frustration und Ärger, die den Populisten in die Hand spielen.

Eine schrumpfende und vergreisende Gesellschaft ist für viele ein Horrorszenario. Für Sie nicht?

Nein, überhaupt nicht. Ich denke, wer damit ein Problem hat, der hat noch ein überkommenes Weltbild im Kopf, bei dem die Zahl der Menschen, die in einem Land leben, etwas über die Macht dieses Landes aussagt.

Wenn die deutsche Bevölkerung schrumpfen sollte – und ich bin mir gar nicht sicher, ob das geschehen wird –, dann wäre die relativ offensichtliche Folge doch, dass die Ausstattung pro Kopf besser wäre, was Straßen, Schulen und Krankenhäuser betrifft. Plakativer ausgedrückt: Wir hätten dadurch viel mehr Platz und könnten dadurch viel nachhaltiger ökologisch wirtschaften, was besser für die Umwelt wäre. Die wunderbaren deutschen Autobahnen wären staufrei und müssten nicht weiter ausgebaut werden, wenn immer weniger Menschen sie befahren würden. Die Schulklassen würden kleiner, das heißt, die Lehrkräfte könnten sich intensiver um die einzelnen Kinder kümmern, und die Hörsäle an den Unis wären nicht mehr so überlaufen, sondern die Professorinnen und Professoren hätten viel mehr Zeit, sich intensiver den handverlesenen Studierenden zu widmen.

Klingt idyllisch. Aber ist das rea­listisch? Und wer soll in die Sozialkassen einzahlen, wenn es immer mehr Ältere gibt – und kaum noch Junge?

Das ist der entscheidende Punkt. Die Frage ist, ob wir bereit sind, die sozialen Sicherungssysteme, die in Zeiten von starkem Wirtschaftswachstum und Bevölkerungswachstum in den 50er Jahren des vorherigen Jahrhunderts geschaffen wurden, an die völlig veränderten Umstände von heute anzupassen. Das heißt, dass wir über steuerfinanzierte soziale Sicherungssysteme nachdenken müssen, statt an beitragsfinanzierten festzuhalten, mit denen man bisher den Sozialstaat über die Lohnnebenkosten finanziert. Konkret müsste das in Richtung einer negativen Einkommensteuer oder eines Grundeinkommens gehen – damit eben auch der Roboter und die digitale Wirtschaft zur Finanzierung des sozialen Systems herangezogen werden, und nicht nur die Arbeit. Wir müssten der steigenden Lebenserwartung Rechnung tragen, indem wir auch die Lebensarbeitszeit verlängern. Natürlich nicht für alle gleichermaßen: Ich verstehe schon, dass der Dachdecker ein Problem hat, mit 60 noch auf das Dach zu steigen. Aber es gibt genügend Alternativen, und das hat auch etwas mit lebenslanger Weiterbildung und Weiterqualifizierung zu tun. Und die Arbeitgeber müssten bereit sein müssen, altersspezifische Arbeitsplätze zu schaffen. Sie müssten anerkennen, dass im Alter vielleicht das kognitive Innovationstempo etwas nachlässt. Dafür bringen Ältere Lebenserfahrung mit. Sie können Netzwerke einbringen, sie besitzen vielleicht soziale Kompetenzen und können vielleicht besser beurteilen: Was ist wirklich wichtig und was ist weniger wichtig.

Sie haben also nicht die Befürchtung, dass in Zukunft ausländische Pflegekräfte immer mehr deutsche Senioren im Pflegeheim versorgen müssen – so lange, bis der Letzte das Licht ausmacht?

Es spricht nichts dagegen, Zuwanderung auch in Pflegeberufe zu fördern. Aber wir haben schon jetzt viele Menschen mit Migrationshintergrund, die noch viel stärker als heute solche Aufgaben übernehmen könnten. Ich sehe den Bedarf an Pflege aber auch gar nicht so dramatisch ansteigen, wie viele das tun. Denn durch die medizinische Entwicklung und unser verändertes Verhalten leben wir heute nicht nur länger, sondern bleiben auch länger gesund. Die Alten von heute sind körperlich, physisch und psychisch viel jünger als die Alten von gestern, und das führt zu einer interessanten, gegenläufigen Verjüngungsbewegung. Früher waren Pflegefälle im Schnitt 60-jährig. Heute sind sie 75, und in zehn oder 20 Jahren werden die Pflegefälle 85 sein. Und deren Pflege wird immer für die Dauer von etwa zwei Jahren sehr intensiv sein. Aber das war schon früher so, das ist heute so und wird auch so bleiben. Das heißt, dass es in Zukunft gar nicht so viel mehr Pflegebedürftige geben wird. Sie werden nur viel älter sein als heute.

Manche fürchten ja, dass Deutschland sich durch zu viel Einwanderung abschafft.

Ich halte das für merkwürdig – also ob „das Deutsche“ ein wie in Stein gemeißeltes Gesetz wäre, das stabil, statisch und starr über die Jahrhunderte Gültigkeit gehabt hätte. Aber das, was Deutschland ausmacht, ist zum Glück stetig im Wandel, und unsere Großeltern oder Urgroßeltern würden das Deutschland von heute wohl kaum wiedererkennen, einfach weil sich der Zeitgeist, die Technologie, die Weltwirtschaft, weil sich so vieles so dramatisch verändert hat. Und natürlich wird Deutschland sich auch weiter verändern, und es wird sicher noch bunter, diverser und vielfältiger werden.

Drohen dadurch nicht auch mehr Konflikte?

Vielfalt hilft, immer wieder das Eigene in Frage zu stellen und Innovationen zu erzeugen. Aber sie hat auch Nachteile. Etwa, dass die gemeinsame Basis ­schmaler wird und der Normalfall nicht mehr wirklich definiert werden kann. Und ich glaube, dass wir als Gesellschaft stärker daran arbeiten müssen, zu definieren: Welches sind die Werte und die Rechtsbereiche, die uns so wichtig sind, dass wir sie als quasi unantastbar betrachten? Und welche dürfen wir ruhig anpassen?

Manche fordern deshalb eine „Leitkultur“. Sie auch?

Ich halte so etwas für unverzichtbar – als Leitplanke, im Sinne von Anleitung, Hilfe und Orientierung bei der Frage: wohin soll Deutschland sich in Zukunft weiter entwickeln. Ich denke da in erster Linie an unser Grundgesetz, das sich über 75 Jahre lang bewährt hat und das die Grundlage ist, auf der wir diese Diskussion führen sollten. Das ist ja eine der großen Stärken Deutschlands im internationalen Vergleich. Rechtsstaatlichkeit, Demokratie, Schutz von Minderheiten, Eigenverantwortung – dass sind die Dinge, die unser Land so stark machen.

Was bietet der Begriff „Leitkultur“, was darüber hinaus geht? In dem Wort ist ja auch das Wort „Kultur“ enthalten, das suggeriert, dass das etwas mit bestimmten Traditionen zu tun hat wie dem Kreuz im Klassenzimmer oder Weißwürsten und Bier – was ja alles außerhalb Bayerns schon nicht mehr zum geteilten Kulturgut gehört.

Das ist vieleicht der Streitpunkt: dass man mit dem Wort Kultur solche Dinge verbindet. Und ich bin mir gar nicht so sicher, ob es so viel mehr braucht als das Grundgesetz mit seinen Verästelungen. Die gemeinsame Sprache vielleicht. Aber das ist doch das Schöne an diesem Land und an diesem Grundgesetz: dass es darüber hinaus vielleicht gar nicht so viel jetzt staatlich vebindlich Geregeltes braucht. Sondern dass halt der eine das Kruzifix in seinem Wohnzimmer hängen hat, und im anderen hängt der Halbmond.

Ist die AfD die Partei derer, denen diese Veränderung Angst macht, und die zu übersichtlicheren Verhältnissen zurück wollen – eine Partei der Moderniserungsverweigerer?

Ich denke, das ist der Fall. Sie finden in der Afd sehr viele sehr nationalkonservative Menschen. Sie ist darüber hinaus aber auch ein Sammelbecken all jener, die gerne die Welt des 20. Jahrhunderts konservieren wollen, die gerne zu diesem Normalfall und zu dem, was sie für typisch deutsch halten, zurück kehren wollen, und die im Rückblick viele Dinge verklärt sehen. Das ist die Partei, die alte Sehnsüchte nach einer besseren und heileren Welt der Vergangenheit bedient. Das hat ja auch etwas Anmaßendes an sich: Zu glauben, man wüsste und sei berufen zu definieren, was deutsch ist.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.