Philosoph über den Nahostkonflikt: „Frieden ohne Wahlrecht“

Nur radikale neue Lösungen helfen aus der verfahrenen Lage, sagt einer der bekanntesten palästinensischen Intellektuellen, Sari Nusseibeh. Etwa ein Einheitsstaat.

Wird nichts getan, wird es immer nur schlimmer, sagt Sari Nusseibeh. Graffiti von Yasser Arafat (r.) und Sheik Ahmed Yassin in Gaza. Bild: dapd

taz: Herr Nusseibeh, in Ihrem neuen Buch vertreten Sie die provokante Idee, dass die Palästinenser in einem Einheitsstaat mit den Israelis zusammenleben sollten – in dem aber nur die Juden das Wahlrecht hätten.

Sari Nusseibeh: Das Buch enthält viele interessante Ideen, aber diese wird immer herausgegriffen.

Immerhin wird diese Idee schon im Vorwort prominent präsentiert.

Der Vorschlag beruht auf der Annahme, dass die Zweistaatenlösung nicht mehr umsetzbar erscheint. Wenn der palästinensische Staat, von dem viele träumen, heute durch diese Tür käme, würde ich ihn willkommen heißen. Aber wir haben eine halbe Million Israelis, die jenseits der Grünen Linie von 1967 im Westjordanland leben. Die Hälfte der Siedler wohnt im Großraum Jerusalem. Wie können wir eine halbe Million Leute umsiedeln? Und haben wir das moralische Recht dazu? Durch gewaltlosen Widerstand werden wir das nicht schaffen. Vielleicht durch einen Atomschlag, aber nicht durch Demos jeden Freitag.

Aber warum sollten die Palästinenser auf ihr Wahlrecht verzichten – nur damit sie mit den Isrealis in einem Staat zusammenleben?

Was wären denn die anderen Optionen? Nummer eins wäre, nichts zu tun. Das bedeutet, es wird immer schlimmer. Damit meine ich nicht, dass ein dritter Weltkrieg oder ein Atomkrieg ausbricht – aber das Leben würde für beide Seiten noch weniger erträglich. Option zwei wäre, was vor allem die Palästinenser vorschlagen: Man lebt in einem einzigen Staat zusammen, in dem alle gleiche Rechte genießen. Das wäre gerecht, hat aber den Haken, dass die Israelis diese Lösung strikt ausschließen. Sie wollen nicht in einem Staat leben, wo die Araber die politische Mehrheit stellen könnten. Dieser Weg endet also in der Sackgasse.

ist Philosoph, Politiker und seit 1995 Präsident der Al-Quds-Universität in Jerusalem. Gerade erschien von ihm „Ein Staat für Palästina? Plädoyer für eine Zivilgesellschaft in Nahost“ (Kunstmann).

Deswegen denken Sie ganz radikal?

Ich finde, dass man über eine dritte Option nachdenken sollte. Am Ende sollte eine Föderation zwischen einem palästinensisch-arabischen und einem jüdischen Staat stehen.

Also doch eine Trennung entlang der Grenze von 1967?

Nein. Dieser Staat wäre nicht unbedingt durch die Linie von 1967 geteilt, sondern entlang ethnischer Grenzen. In Israel wie im Westjordanland gibt es rein arabische und rein jüdische Städte. Zugleich gibt es Fälle wie Haifa, wo sich die Bevölkerungen mischen und etwa 20 Prozent arabisch sind. Ich stelle mir einen offenen Raum vor, wie er in Europa oder den USA existiert, wo zwei politische Einheiten bestehen: die palästinensische und die jüdische. Beide regieren ihre jeweilige Bevölkerung, aber in einem gemeinsamen Staat. Ein Israeli könnte von Tel Aviv überall ohne Kontrolle hinfahren. Das sollte umgekehrt auch für die Palästinenser gelten. Geben wir also den Palästinensern zivile Rechte!

Aber der übergeordnete Staat würde nur von den Juden regiert?

Die Palästinenser sollten Bewegungsfreiheit haben und überall eine Arbeit oder Wohnung suchen können. Sie hätten einen garantierten Zugang zu allen sozialen Dienstleistungen, aber nicht unbedingt das aktive und passive Wahlrecht für die Knesset.

Das heißt, trotz Uno-Resolutionen müssten die Palästinenser auf ihre Ansprüche verzichten?

Ostjerusalem, das die Hauptstadt eines Palästinenserstaates werden soll, ist heute mehrheitlich jüdisch. Man kann nicht mehr in den Kategorien von 1967 denken. Aber man kann zumindest versuchen, sich der damaligen Zeit anzunähern. Zwischen 1967 und den späten 1980er Jahren konnten sich die Menschen frei bewegen und hatten Arbeit in verschiedenen Gebieten. Heute ist das nicht mehr möglich. Vor allem die Palästinenser haben keine Bewegungsfreiheit. Es wäre schon ein Fortschritt, wenn wir zumindest grundlegende Bürgerrechte genießen würden.

Was würde Ihr Modell für das als heilig geltende Rückkehrrecht von fünf Millionen Flüchtlingen bedeuten?

Es ist doch die noch immer offiziell angestrebte Zweistaatenlösung, die das Rückkehrrecht aufgeben würde. Das gibt zwar niemand zu, aber ich sage hier die Wahrheit. Es ist nicht machbar, dass die Israelis einem Palästinenserstaat zustimmen und gleichzeitig zulassen, dass Millionen Palästinenser nach Israel kommen. Die Israelis sollen die Rückkehr von zwei oder drei Millionen Menschen in ihr Land erlauben? Wer das glaubt, ist dumm.

Im Einheitsstaat wäre eine Rückkehr einfacher?

Rückkehr heißt, in den Raum Israel-Palästina zurückzukehren. Es gibt mehr als 500 Dörfer, die völlig zerstört wurden, darunter das meines Großvaters. Ich kann nicht hoffen, in das Haus meines Großvaters zurückzukehren, weil es das nicht mehr gibt. Aber ich will das Recht haben, in das Territorium zurückzukehren, und Niederlassungsfreiheit genießen.

Warum sollten die Israelis das akzeptieren?

Eine Zweistaatenlösung ist derzeit nicht möglich. Wenn die Israelis nicht nach Kompromissen suchen, haben sie nur zwei Optionen, mit uns Palästinensern umzugehen: Entweder herrschen sie in einem Apartheidsystem über uns. Das würde die Gesellschaft spalten und Probleme mit der internationalen Gemeinschaft schaffen. Oder aber sie rotten uns aus. Das aber geht heute nicht mehr. Wenn die Israelis über ihre eigene nachhaltige Zukunft nachdenken, dann müssen sie sich etwas einfallen lassen. Anfangs dachten sie, sie könnten ihren jüdischen Staat aufbauen und wir würden irgendwo in der Wüste verschwinden. Als sie 1967 den zweiten Krieg gegen uns gewannen, haben sie das palästinensische Territorium wiedervereinigt. Heute leben mehr Palästinenser im historischen Palästina als in der Diaspora. Das ist für Israel eine sehr unangenehme Vorstellung.

Um wie viele Menschen geht es?

Wir sprechen hier von mehr als fünf Millionen Palästinensern im historischen Palästina. Wir waren 100.000 auf israelischem Gebiet. Heute ist es eine Million, auf dem restlichen Territorium sind es vier Millionen. Damit müssen sich die Israelis arrangieren.

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