Polizeiarbeit in der Provinz: Der vergessene Zeuge

Weil er schon weiß, wie es in seiner Gegend so läuft, erwähnt ein Polizist in Sulingen einen Zeugen nicht in seinem Bericht und beeinflusst so einen Prozess.

Junge Polizeianwärter sitzen bei einem Festakt zur Vereidigung in der Swiss Life Hall.

Machen ihren Job hoffentlich besser: Junge Polizeianwärter*innen bei der Vereidigung Foto: dpa

SULINGEN taz | Als Polizeikommissar Peter B. nach dem Ende des Prozesses in Saal 116 des Sulinger Amtsgerichts mal ganz informell etwas dazu sagt, wie es „wirklich“ zugeht, dort in den Sozialwohnungen der niedersächsischen Kleinstadt, bekommt man eine Ahnung. Davon, wie polizeiliche „Definitionsmacht“ in der Provinz funktioniert, wie das schnelle Urteil eines Beamten ein Ermittlungsverfahren prägen kann und wie alltäglich Menschen aus einem armen, unterprivilegierten Milieu unschuldig ins Visier der Strafverfolgung geraten.

Der Kontext sei ja bekannt, sagt B. über die Sozialwohnungs-Gegend. „Was man von denen hört, ob Zeuge, Opfer oder Beschuldigter, ist alles nichts wert.“ Alles Sozialfälle, sagt er damit sinngemäß, alles hoffnungslos. Als sei es egal, wer genau von ihnen am Ende für eine Tat verurteilt wird. Es ist eine Einstellung, dank der beinahe drei Menschen in Sulingen unschuldig verknackt worden wären.

Aber der Reihe nach. Fast dreieinhalb Jahre ist es her, dass Peter B. und fünf KollegInnen der Polizei in Sulingen mitten in der Nacht zu einem Einsatz gerufen werden: Schlägerei, Notruf. Als sie eintreffen, kommen den sechs Polizisten gleich zwei „amtsbekannte“ Personen entgegen, wie es später im Einsatzprotokoll steht, einer sei „blutüberströmt“. Auf die Frage, wer das getan habe, deutete der Mann in gebrochenem Deutsch auf „die anderen Schwarzafrikaner“ hin, heißt es weiter. Diese anderen aber sagen: Der verletzte Mann habe sie vorher mit einer Machete bedroht. Sie hätten in Notwehr gehandelt.

Peter B. und seine KollegInnen aber finden keine Machete und auch kein Messer. Im Bericht schreibt B. später, die angebliche Bedrohung, die zur Notwehr geführt haben soll, könne „nicht verifiziert“ werden. Vier der fünf Beteiligten waren teils stark alkoholisiert.

Drei Männer werden später wegen gefährlicher Körperverletzung angeklagt. Es steht viel auf dem Spiel: Von sechs Monaten bis zu zehn Jahre reicht das mögliche Strafmaß. Alle drei beteuern weiterhin, dass sie in Notwehr gehandelt hätten. Nur: Das Gericht will ihnen nicht glauben. Zumindest am Anfang nicht. Doch irgendwann muss Peter B. aussagen – und dazu das Protokoll des Notrufes mitbringen, das überhaupt erst zu dem Einsatz geführt hat.

Durch die polizeiliche Definitionsmacht – das zeigt dieser Fall – können auch Unschuldige schnell mal in den Fokus der Ermittlungen rücken

Erst jetzt wird klar, dass es noch einen Unbeteiligten gibt, der die Situation beobachtet hat: der Mann nämlich, der den Notruf wählte. Ein vergessener Zeuge, der nun erst mitten in der Hauptverhandlung ins Spiel kommt. Er wird vernommen und kann sich kaum noch an etwas erinnern. Dennoch werden die drei Angeklagten am Ende freigesprochen.

Dass der Prozess so endet, ist auch dem Bremer Anwalt Jan Sürig zu verdanken, der einen der Angeklagten vertreten hat. Er wollte nicht locker lassen – und hat sich deshalb auch mit dem Polizisten Peter B. angelegt. B. hatte den unbeteiligten Zeugen, der den Notruf absetzte, in seinem Bericht schlicht nicht erwähnt. Er war damit nicht Teil der Ermittlungsakten. Der Notrufer war B. bekannt, schon öfter meldete er sich bei der Polizei, aber noch nie wurde er als Zeuge vernommen. Nur, weil er in dem Prozess dann doch noch auftaucht, kommt es zu einem Freispruch, erklärt Sürig.

Sürig lässt so etwas nicht kalt. Noch in einer Pause der Verhandlung spricht er B. darauf an. Er habe den „Zeugen wissentlich vorenthalten“, wirft er dem Polizisten vor. Der ist brüskiert. Er kenne ein solch respektloses Verhalten nicht, sagt er später. Er zeigt den Anwalt wegen übler Nachrede an. Zunächst ergeht deshalb sogar ein Strafbefehl über 30 Tagessätze.

Sürig erhebt Einspruch, es kommt zur Verhandlung. Am Montag wurde er dann freigesprochen. Der Hinweis auf den vergessenen Zeugen sei vielleicht ungehobelt, aber dennoch an der Sache orientiert gewesen, mithin seine Pflicht als Anwalt, erklärt die Richterin. Das sieht auch die Staatsanwältin ein.

Falsche Vorannahmen

Anhand der Ausführungen B.s lässt sich erahnen, wie es auch in anderen Fällen zu Fehlern kommt, die in falschen Vor­annahmen begründet sind. Notrufprotokolle etwa sind nicht automatisch Teil der Ermittlungsakte. Polizisten wählen aus, wer als Zeuge in Betracht kommt, wer relevant und was irrelevant ist – zumindest eben in ihren Augen. Dass dabei manchmal wichtige Zeugen fehlen? Der Staatsanwältin macht das beim Prozess weniger Sorgen. „Wo gehobelt wird, fallen Späne“, sagt sie dazu.

Wohl etwas mehr Späne fallen, wenn man mit den Dorfsheriffs schon eine Geschichte hat, womöglich als Alkoholiker gilt und als Sozialfall. Dann ist eine Aussage eben von vornherein „nichts wert“, wie Peter B. sagt.

Dass Einsatzberichte nur in ausgewählten Auszügen in den Ermittlungsakten landen – darin sieht Anwalt Sürig ein strukturelles Problem bei der Polizei. „Es ist absolut nicht in Ordnung, mich dafür anzuzeigen, dass ich das Problem benenne“, sagt er. Grundsätzlich müssten Akten vollständig und wahr sein, erklärt auch Jasper von Schlieffen, Geschäftsführer des Organisationsbüros der Strafverteidigervereinigungen. Sie müssten den Gang der Ermittlungen abbilden, die Polizei dürfe keine Nebengleise eröffnen. „Durch die gewisse Auswahl, die die Polizei trifft, setzt sich aber die polizeiliche Ermittlungshypothese durch, die im Verfahren zur Richtschnur wird“, sagt der Jurist.

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