Pro und Contra: Gibt es guten Boulevard?

Am Sonntag wird Deutschlands größte Zeitung 60 Jahre alt. Die "Bild" prägt den hiesigen Boulevardjournalismus. Wäre er auch ohne Niedertracht möglich?

Boulevard – Straßenfeger oder für die Gosse? Bild: Jate / photocase.com

Pro

Natürlich gibt es guten Boulevard. Alltagsgeschichten, Geschichten von der Straße, engagiert aufgeschrieben oder gesendet. Eingängig und für Leser- oder ZuschauerInnen sofort und einfach zu verstehen. Drastisch und zugespitzt geschildert, dabei nicht unzulässig übertrieben oder durch Weglassung manipuliert. Günter Wallraff, zum Beispiel.

Wie bitte – ausgerechnet Wallraff? Genau, ausgerechnet Günter Wallraff. Er vereint in seinen Undercover-Reportagen alle Elemente des guten Boulevards: Wallraff berichtet packend und persönlich. Er skandalisiert, was Skandal ist – von unhaltbaren Arbeitsbedingungen in Backfabriken oder bei Paketfahrern bis zum Einsatz bei einer großen deutschen Boulevardzeitung vor mittlerweile 35 Jahren.

Die Bild ist bekannt für ihre fragwürdigen Recherchemethoden. Aktuellster Fall: Am 16. Juni 2012 konnte es die Bremerin Hannah Wolf kaum fassen, als die Bild sie für tot erklärt hatte. Neben der Schlagzeile „Weddinger tötet Mitbewohnerin und springt aus dem Fenster“ prangte ein eiligst aus dem Netz beschafftes Foto von ihr. In dem Artikel fand sie Teile ihrer Biografie wieder. Ein Wochenende lang hielten sogar manche ihrer Bekannten Hannah für tot. (ked)

Denn was macht guten Boulevard aus? Zunächst mal: Haltung. Haltung, die klar offenbart wird. Und die nicht versucht, sich den Konsumenten pauschal als dessen eigene, angeblich gesunde Volksmeinung unterzuschieben. Das wiederum betreibt Bild seit rund 60 Jahren, und noch immer fällt gerade die Politik gern drauf rein. Es geht vielmehr um die konkrete Haltung des Blattes, des Autors; als Angebot an die LeserInnen, sich mit dieser Haltung auseinanderzusetzen.

Und sich – wenn es passt – damit zu identifizieren. Mit Geschichten, die berühren, weil jedeR durch sie ganz real berührt wird – weil ihn oder sie eben auch dasselbe Schicksal treffen könnte. Oder weil die LeserInnen – ohne dass sie es bislang hatten wissen wollen – selbst Teil der Geschichte sind.

Guter Boulevard berührt, ohne die Emotionalisierung nur als billiges Mittel zum Zweck einzusetzen. Empörung, Mitleid, Scham, Wut – menschliches (manchmal auch tierisches) Schicksal am konkreten Beispiel, als Türke Ali, Fließbandbäcker oder Obdachloser, sagt mehr aus als Zahlenkolonnen, Statistiken und Integrations- oder Armutsberichte. Und weil die Themen des guten Boulevards jeden angehen, kommt er an sich auch ohne „Witwenschütteln“ aus.

Ohne dieses „Doch noch Fotos der mit dem Bus tödlich verunfallten Schulkinder“-Besorgen, weil sich angeblich nur beim Anblick der über die Titelseite gedroschenen kleinen unschuldigen Gesichter das wahre Ausmaß der Tragödie vermitteln lässt. Guter Boulevard hat diese Ranschmeiße nicht nötig.

Und dann ist da noch die dritte Maxime: Aufrütteln, für Veränderung streiten, unhaltbare Situationen, Arbeits- oder gar Lebensbedingungen vielleicht verändern helfen. Keine „Kanzler, komm runter, mach Deutschland munter“-Nummern, auch kein billiger „Spritpreis-Senkung sofort!“-Lobbyismus für geschundene Autofahrerseelen. Sondern Veränderung, die im besten Fall durch Einsicht beginnt – nicht durch die Furcht vor einem vermeintlichen Agendasetter mit Millionenreichweite.

Dieser gute Boulevard findet übrigens auch im Fernsehen statt, manchmal sogar Grimme-Preis-verdächtig. Nicht in „taff“ und „Brisant“ und den anderen Derivaten von „Bild-TV“. Sondern zum Beispiel in der „Kik-Story“ des NDR über die Zusammenhänge zwischen Billigklamotten beim Bekleidungsdiscounter um die Ecke und den Arbeitsbedingungen in Indien, Bangladesch und anderswo. Natürlich ließe sich das auch ganz nüchtern mit Zahlenkolonnen, Tabellen und Grafikcharts abbilden.

Natürlich geht manchem TV-Kritiker ein leicht überengagiert wirkender Presenter-Reporter namens Christoph Lütgert auf den Zeiger. Wenn sich dieser zuerst für kleines Geld groß einkleidet und dann auf Ursachenforschung geht. In Slums die Näherinnen und ihre Kinder trifft, natürlich überspitzend, einen sterbenden Jungen. Nicht alle Näherinnen sind Mütter schwerkranker Knaben unter 14, so viel ist klar. Hier aber völlig egal. Denn dem größten Teil des Publikums zeigt genau dieser Film in seiner Zuspitzung und dieser Lütgert in seiner persönlichen Betroffenheit, dass auch sie persönlich betroffen sind.

Dies alles ist übrigens Qualitätsjournalismus, was zum Schluss noch eine andere Frage aufwirft: Ist die taz eine Boulevardzeitung? Die Antwort fällt verhältnismäßig leicht – sie lautet: Warum nicht? Steffen Grimberg

Contra

Wir müssen uns von dem Gedanken verabschieden, dass es den guten Boulevard gibt. Und „gut“ ist in diesem Fall keine Frage von rechts und links. Bild ist nicht deshalb eine schlechte Zeitung, weil sie eher rechts ist. „Gut“ ist auch kein Urteil aus kultureller Überheblichkeit. Nicht die Einfachheit der Bild - und ihrer Leser - ist das Problem. Im Gegenteil: Dass der Boulevard reduziert, Dinge auf den Punkt bringt, lesbare Sätze formuliert, ist ein lobenswerter Dienst am Leser. Nicht die kurzen Sätze sind das Problem.

Nein.

„Gut“ ist schlicht als moralische Kategorie zu verstehen. Und in diesem Sinne kann eine Boulevardzeitung nicht gut sein, wenn sie gleichzeitig erfolgreich sein will. Die Messlatte ist Bild. Sie setzt die moralischen Standards, die es zu unterbieten gilt.

Sie spricht die Lust an den Schwächen anderer an, die Angst vor dem Unbekannten, den Hang zur Rache und zur Selbstjustiz, den Genuss der Niedertracht, den Unwillen zur Vergebung, den Ekel, die Furcht vor materiellem Verlust, den Neid.

Wir haben diese Gefühle in uns. Der Boulevard weiß das und zielt darauf wie eine Lenkrakete. Das ist die Dialektik des Boulevards: Er kann nur gut sein, das heißt erfolgreich, wenn er schlecht ist, also niederträchtig. Wo lernt man so etwas?

Der Axel-Springer-Verlag hat eine Journalistenschule, die Axel-Springer-Akademie. Vor Kurzem gratulierte die Akademie einem Schüler auf ihrer Facebook-Seite; er hatte in seinem Praktikum bei Bild eine Schlagzeile recherchiert. Es ging um einen Radiomoderator, er soll sich des Missbrauchs einer Minderjährigen schuldig gemacht haben. Bild zeigte ihn auf der Titelseite und fragte: „Neue Vorwürfe gegen ,Ostseewelle'-Moderator - Ist er auch Gewinnspielbetrüger?“ „Auch“ - als sei der Missbrauch längst bewiesen. Es ist dem Bildblog zu verdanken, dass Bild nicht unbeobachtet bleibt. So hat er auch das Gratulationsschreiben der Springer-Akademie auf Facebook entdeckt.

Zorn gegen Männer zu schüren, die sich des Missbrauchs schuldig gemacht haben sollen, ist ein Kerngeschäft des Boulevards. Bild „übernimmt“ den Fall - lange bevor die Ermittlungsbehörden die Chance haben, den Verdacht zu erhärten, und noch länger bevor ein Gericht ein Urteil spricht. Der Rechtsstaat ist vielen zu langsam, zu milde, zu zögerlich. Sie vertrauen auf die Parastaatlichkeit des Boulevards. Es kommt mitunter vor, dass die Bild-Zeitung ihre Interviews ganz unverhohlen „Verhör“ nennt.

Das Prinzip, das dahinter steht, heißt Dorfjustiz. Friedrich Dürrenmatt hat ein Buch darüber geschrieben: „Das Versprechen“. Da gipfelt die Selbstjustiz einiger Dorfbewohner darin, dass sie einen Unschuldigen an einen Traktor hängen und in Gülle tauchen. Weil eben alles danach aussieht, dass er es war. Und weil es um den Tod eines Mädchens geht. Die Wut gegen den Täter kann jeder nachvollziehen. Der Boulevard schlägt daraus Kapital.

Auch in Emden ging es im März um den Tod eines Mädchens, die Polizei nahm zunächst einen 17-jährigen fest, die Bild präsentierte ihn auf der Titelseite als Täter. Die Polizei ließ den Jungen wieder frei. Bild berichtete daraufhin scheinheilig vom Lynchmob, der in der Stadt tobte. Als habe sie nichts damit zu tun.

Es sind Gefühle, die den Boulevard antreiben und am Leben halten. Er richtet sich an eine Gemeinde der Rechtschaffenen - und gegen alles, was anders ist. Er schafft Gegner und Helden, Sieger und Besiegte, Anführer und Außenseiter, er jubelt, schreit, schimpft, schwitzt. Das muss nicht immer gefährlich sein, oft ist es auch nur skurril.

Als zwei Bild-Reporter vor einigen Wochen den Henri-Nannen-Preis bekamen und drei Redakteure der Süddeutschen daraufhin eine Auszeichnung ablehnten, da erkannte ein Kritiker darin die „Arroganz der Arrivierten“. Dass Bild ein „Scheißblatt“ ist, wie Hans Leyendecker treffend formuliert, ist jedoch keine philosophische Erkenntnis. Man muss auch nicht Hans Leyendecker sein, um zu diesem Urteil zu kommen. Die Kritik am Boulevard verlangt keinen Intellekt. Sondern Mitgefühl. Felix Dachsel

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