Protest in Tunesien: Ein Toter bei Reizgaseinsatz

Kurz vor dem Jahrestag des Arabischen Frühlings von 2011 liegt in Tunesien Revolte in der Luft. Frustrierte Bürger gehen wieder auf die Straße.

Demonstrant*innen in Tunis

Unzufrieden mit dem Regierungskurs: Die Tunesier wenden sich gegen Sparmaßnahmen Foto: reuters

TUNIS taz | Bei Protesten gegen steigende Preise ist in der tunesischen Stadt Tebourba am Montagabend ein 55-Jähriger ums Leben gekommen. Fünf weitere Demonstranten wurden nach einem Tränengaseinsatz der Polizei in das Krankenhaus der Kleinstadt 50 Kilometer westlich von Tunis eingeliefert. Die Ärzte stellten bei dem Toten keine Spuren von Gewalt, aber Atemstillstand durch Reizgas fest. Zeugen zufolge war der Protest in Gewalt umgeschlagen, als Sicherheitskräfte Jugendliche daran hinderten, ein Regierungsgebäude anzuzünden. 44 Menschen seien wegen Waffenbesitzes festgenommen worden, so ein Sprecher des Innenministeriums.

Kurz vor den Feiern zum sechsten Jahrestag der Jasmin-Revolution in Tunesien gingen auch in zehn weiteren Städten Bürger auf die Straße. „Wir hatten mit kleinen Protestmärschen gerechnet, aber die Verzweiflung der Menschen treibt wesentlich mehr Menschen auf die Straße als wir mit politischen Forderungen geschafft hatten“, sagt Henda Chennaoui von der Protestbewegung Manich Mesema, die seit dem letzten Januar gegen ein Amnestiegesetz mobilisierte. Während Manich Mesema von Studenten, politischen Aktivisten und dem Widerstand gegen die Straffreiheit der alten Businesselite getragen wurden, fehlen bei den aktuellen Protesten aber noch konkrete Ziele.

Wut über den am 1. Januar erhöhten Strompreis, den Verfall des tunesischen Dinars und die hohe Arbeitslosigkeit trieb viele am Montag auf die Straße. In der südtunesischen Kleinstadt Sidi Bouzid, von wo aus im Januar 2011 die Empörung über den Selbstmord des Studenten Mohamed Bouazizi innerhalb weniger Tage das ganze Land erfasst hatte, sind in den nächsten Tagen weitere Protestmärsche geplant.

„Immer weniger Tunesier können ihre Familie ernähren, gleichzeitig sehen sie, wie Gelder aus Europa und den Golfstaaten in die gleichen Kanäle wie zu Ben Alis Zeiten fließen“, sagt Mohamed Rama, der sich in Sidi Bouzid gegen Polizeigewalt engagiert. „Es reicht schon ein Bart oder kritische Äußerungen, um im Gefängnis zu landen.“

Noch sind keine Massen auf den Straßen

Während der 88-jährige Präsident Chaeib Essebsi sich nicht äußerte, forderte der nicht einmal halb so alte Premierminister Youssef Chahed die Bürger auf, die Austeritätsmaßnahmen seiner Regierung nicht zum Anlass für Gewalt zu nehmen. Alle Bürger würden dieses Jahr Opfer zur Rettung Tunesiens bringen müssen, forderte Chahed, dem Gegner einen nur halbherzigen Einsatz gegen die grassierende Korruption im Staatsapparat vorwerfen.

Aktivist in Sidi Bouzid

„Immer weniger Tunesier können ihre Familie ernähren“

Ein Großteil der ausländischen Finanzhilfe war nach den Morden an ausländischen Touristen in Sousse und Tunis in die Stärkung der Sicherheitsorgane geflossen. Hunderte radikale Terrorzellen wurden daraufhin ausgehoben.

Doch in diesem Jahr muss Tunesien Kredite zurückzahlen und sich den Sparmaßnahmen der Weltbank beugen. Statt den aufgeblähten öffentlichen Sektor zu verkleinern, schröpfe die Regierung die Bürger, so der Anführer der linken Front Populaire, Hamma Hamami, dessen Jugendbewegung die Proteste unterstützt – und von regierungstreuen Medien für die Eskalation verantwortlich gemacht wird.

Noch sind keine Massen wie 2011 auf den Straßen. Viele Tunesier haben nach den turbulenten letzten Jahren kein Interesse, auf die Straße zu gehen. Auf der zentralen Avenue Bourguiba im Herzen von Tunis marschieren aber immer wieder vereinzelte Gruppen von jungen Leuten vor dem mit Stacheldraht gesicherten Innenministerium auf. Sie halten den Passanten in den Cafés handgeschriebene Parolen ihrer neuen Bewegung Fech Nestanaw entgegen: „Worauf wartet ihr noch?“

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Auch Jahre nach Beginn des „Arabischen Frühlings“ reißen die Massenproteste nicht ab. Ein ganzes Jahrzehnt ist tief durch die Arabellion geprägt. Im Schwerpunkt-Dossier „Zehn Jahre Arabischer Frühling“ berichten taz-Korrespondent*innen und Gastautor*innen aus den Umbruchsländern vom Maghreb über Nordafrika bis nach Syrien, den ganzen Nahen Osten und die arabische Halbinsel.

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