Psychosoziales Netzwerk: „Nadelöhr in Versorgung erweitern“

Simone Penka von TransVer unterstützt Geflüchtete, Menschen mit Migrationsgeschichte und Fachkräfte auf der Suche nach Hilfe bei psychischen Problemen.

Porträt von Simone Penka, Mitgründerin von TransVer. Das Projekt unterstützt Geflüchtete, Menschen mit Migrationsgeschichte und Fachkräfte auf der Suche nach Hilfe bei psychischen Problemen

Simone Penka, Mitgründerin von TransVer Foto: Wolfgang Borrs

taz: Frau Penka, stellt das deutsche Gesundheitssystem Menschen mit einer Migrations- oder Fluchtgeschichte, die Hilfe bei psychischen Problemen brauchen, vor besondere Probleme?

Simone Penka: Im psychosozialen Bereich stellt das Gesundheitssystem auch viele andere Menschen vor Probleme. Welcher Facharzt, welche Stelle ist zuständig, wie ist der Weg dorthin? Viele denken heutzutage automatisch an Psychiater oder Psychotherapeuten. Es gibt aber noch viele andere Angebote, zum Beispiel Eingliederungshilfen – das sind Leistungen über das Sozialamt – die bei psychischen Erkrankungen förderlich sein können. Überforderung und Unkenntnis betreffen oft Menschen mit geringerem Bildungshintergrund, Ältere und eben auch Menschen mit Migrationsgeschichte. Daher hielten wir es für sinnvoll, eine Anlaufstelle zu haben, die das Nadelöhr in die psychische Versorgung erweitert, aber auch Fachkräfte unterstützt und sensibilisiert.

Wie geht TransVer dabei vor?

Wir bieten Menschen mit Migrationsgeschichte die Vermittlung in psychosoziale Einrichtungen an. Wir machen Vorschläge und versuchen, Orte zu finden, wo sie Behandlung oder Versorgung bekommen. Das ist vor allem dann schwierig, wenn Betroffene geringe Deutschkenntnisse haben. Da der Prozess sehr komplex ist, ist es wichtig, das Versorgungssystem zu kennen und entsprechende Erfahrung zu haben. Man kann dann auch kreativ nach Orten suchen, wo Menschen gut aufgehoben sind. Zudem wollen wir über Angebote für Fachkräfte dazu beitragen, deren Unsicherheiten zu beseitigen. Wir wollen sie dazu motivieren, auch mal mit Sprachmittler*innen oder teils mit Händen und Füßen zu arbeiten. Und drittens haben wir eine Datenbank, bei der Fachkräfte gezielt nachschauen können, in welcher Einrichtung es welche Sprachkompetenzen gibt und wo gezielt hin vermittelt werden kann.

46, studierte in Heidelberg, arbeitete als Sozialarbeiterin in der Charité Berlin und in der Volkswagen-Stiftung; 2016 promovierte sie und gründete 2017 TransVer

An zwei bis drei Tagen pro Woche beraten Sie und Ihr Team Menschen mit psychischen Problemen, die Migrationsgeschichte haben oder flüchten mussten. Wie sieht die Beratung aus?

In einem Erstgespräch schauen wir, wer uns gegenübersitzt. Oft werden Menschen von Fachkräften aus Unterkünften, Jobcentern oder der Schule zu uns geschickt, häufig mit dem Hinweis, dass eine Psychotherapie notwendig sei. Aber wir lassen die Menschen erst einmal von ihrer Lebenssituation und ihren Problemen erzählen und vermitteln dann bedarfs- und ressourcenangemessen.

Tauchen bestimmte psychische Erkrankungen unter Geflüchteten häufiger auf?

Ja. Posttraumatische Belastungsstörungen treten bei Geflüchteten vergleichsweise häufiger auf in Folge von traumatisierenden Erfahrungen. Solche Erfahrungen haben viele Geflüchtete gemacht, aber nicht bei allen führen sie zwingend zu einer psychischen Erkrankung. Es gibt auch Menschen, die schon in ihrem Herkunftsland unter einer psychischen Erkrankung litten und die in Deutschland weiterer Behandlung bedürfen. Bei TransVer stellen sich auch viele Personen mit affektiven Erkrankungen wie etwa Depressionen vor. Häufig sind diese Folge der schwierigen Erfahrungen und unklaren Lebenssituation in Deutschland.

Spielt dabei auch der Aufenthaltsstatus der Betroffenen eine Rolle?

In der jüngeren Forschung wird das bestätigt. Auch bei uns zeichnet sich ab, dass Menschen mit unsicherem Aufenthaltsstatus deutlich depressiver sind und häufiger Suizidgedanken haben als die mit einem gesicherten Aufenthalt. Ähnlich ist es bei denen, die geringere oder keine deutsche Sprachkompetenz haben. Es ist schwierig, teilzuhaben, wenn die Sprache fehlt. Es ist aber ein Kreislauf: Wenn man zum Beispiel eine Depression hat, ist es wiederum sehr schwer, eine neue Sprache zu lernen.

Wie lange dauert eine Beratungsperiode normalerweise?

Der überwiegende Teil der Beratungen dauert kürzer als einen Monat mit drei persönlichen Gesprächen. Andere kommen länger als ein halbes Jahr hierher, bis sie weitervermittelt sind. Diese Wartezeit überbrücken wir dann teils mit unterstützenden Gesprächen. Wir sind aber keine Sondereinrichtung für Migrant*innen und Geflüchtete, sondern wollen Menschen ins psychosoziale Regelversorgungssystem bringen – und es umgekehrt für diese Gruppen zugänglicher machen. Gerade Berlin hat so viele qualitativ hochwertige Angebote. Eigentlich ist es ein Muss, dass diese Angebote für alle Menschen geöffnet sind.

Bei TransVer betreuen Sie Menschen aus über 50 Herkunftsländern mit mehr als 50 verschiedenen Muttersprachen. Wie machen Sie das?

Dienstags haben wir feste Farsi-Mittler*innen, donnerstags feste Arabisch-Mittler*innen vor Ort. Einer unserer Kollegen spricht Türkisch, ein anderer spricht Polnisch. Bei kurdischsprachigen Hilfesuchenden und vielen anderen Sprachen vereinbaren wir einen Termin mit Sprachmittler*innen.

Sie bieten auch Trainings für Fachkräfte an. Warum?

Der Kenntnisstand unter Fachkräften ist sehr unterschiedlich. Nach 2015 wurden zum Beispiel viele Quereinsteiger eingestellt, deren Kompetenz vor allem in ihrer nicht-deutschen Muttersprache gesehen wird. Deren fachliche Qualifikationen sind aber sehr unterschiedlich. Das ist eine große Zielgruppe, die viele Fortbildungsangebote in Anspruch nimmt. Wichtig ist uns, keinen kulturalisierenden Ansatz zu verfolgen. Stattdessen streben wir Selbstreflexion als Schlüsselkompetenz für alle Fachkräfte an.

Seit 2017 beraten Simone Penka und vier weitere hauptamtliche Mitarbeiter*innen von TransVer Geflüchtete und Menschen mit Migrationshintergrund im psychosozialen Bereich. Die Idee entstand aus einem Forschungsprojekt von Penka und Mitinitiatorin Ulrike Kluge zu seelischer Gesundheit bei Geflüchteten. TransVer versteht sich als Ressourcen-Netzwerk, das das komplexe System der Gesundheitsversorgung interkulturell öffnen möchte.

Beratungstermine in verschiedenen Sprachen werden zweimal wöchentlich im Büro an der Brunnenstraße 188–190 angeboten, dabei helfen Übersetzer*innen. Außerdem finden Workshops und Fortbildungen für Fachkräfte statt. Gerade haben Penka und ihr Team eine Datenbank erstellt, die es Fachkräften erleichtert, psychosoziale Dienste zu finden, die Hilfe in verschiedenen Sprachen anbieten.

In der eineinhalbjährigen Bestehenszeit hat TransVer bereits 520 Betroffene vermittelt – Tendenz steigend. Dennoch läuft Ende 2019 die Förderung durch die Lotto-Stiftung aus. Noch wissen die Macher*innen nicht, wie es weitergehen soll. Sie wünschen sich eine Weiterfinanzierung durch die Senatsverwaltung für Gesundheit. (anm)

Wie meinen Sie das?

Viele Fachkräfte denken, dass kulturelle Differenzen die größte Herausforderung in der Begegnung mit Hilfesuchenden mit Migrationsgeschichte sind. Eine junge Workshop-Teilnehmerin meinte neulich, sie habe das Gefühl, ihrer Klientin aus Afghanistan nicht gerecht zu werden, weil sie ihren kulturellen Hintergrund nicht kennt. Wenn man aber einzig Kulturunterschiede fokussiert, gibt es so wenig Verbindendes. Darüber, dass auch psychisch Kranke sehr divers sind, macht man sich oft keine Gedanken – weil man immer über die „Kultur“ nachdenkt. Wenn Sie jemand im Ausland fragen würde, was die deutsche Kultur ist – würden Sie das Gleiche sagen wie ich? Ich glaube: nein. Es wirkt immer so einfach, nach der „syrischen Kultur“ oder der „türkischen Kultur“ zu fragen. Aber was ist das eigentlich? Es gibt so viele unterschiedliche Lebenswelten innerhalb der Länder.

Was raten Sie stattdessen?

Vielleicht hat man ja viel mehr Gemeinsamkeiten, als man wahrnimmt. Einen Bildungshintergrund oder eine Geschichte, die sich ähnelt. Man kann Fragen stellen. Das macht man doch auch bei vermeintlich ähnlichem Hintergrund. Wenn ich jemanden frage, wie es bei ihr oder ihm zu Hause gewesen ist, signalisiert das Interesse und ermöglicht eine erste Begegnung, die in der psychosozialen Arbeit so wichtig ist.

Bis Ende 2019 fördert die Lotto-Stiftung Ihr Projekt. Bei der Senatsverwaltung für Gesundheit, Pflege und Gleichstellung haben Sie bereits einen Antrag auf Weiterfinanzierung gestellt – doch bisher ohne Antwort. Was können Sie aber tun, wenn bis Ende des Jahres keine Rückmeldung kommt?

Durch die Mittel der Lotto Stiftung Berlin konnten wir in kurzer Zeit Kontakte aus- und aufbauen. So entstand ein psychosoziales Netzwerk in Berlin, von dem Berliner Fachkräfte und auch psychisch Belastete profitieren – und das weiterbestehen sollte. Es wäre mehr als bedauerlich, wenn nach dem erfolgreichen Einstieg keine weitere Perspektive entstünde. Wir sind mit großem Enthusiasmus gestartet und haben das Haus, in dem wir arbeiten, selbst renoviert. Es steckt sehr viel Herzblut in allem. Wir hoffen, dass das Land Berlin diesen großen Wert erkennt. Wenn wir weiter geöffnet sein sollten, wollen wir für die gesamte Berliner Bevölkerung ab 18 Jahren zugänglich sein. Für viele Stellen in Berlin, für Betroffene und Angehörige ist unsere Arbeit eine unglaublich große Entlastung. Wir tragen dazu bei, die psychosoziale Regelversorgung für alle Menschen in Berlin zu öffnen.

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